Lenin: Über die proletarische Miliz

Über die proletarische Miliz

Die Schlußfolgerung, die ich gestern hinsichtlich der schwankenden Taktik Tschcheïdses zog, wird heute, am 10. (23.) März durch zwei Dokumente voll bestätigt. Das erste ist ein der „Frankfurter Zeitung“ telegrafisch aus Stockholm übermittelter Auszug aus dem Manifest des ZK unserer Partei, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands, in Petrograd. In diesem Dokument steht weder etwas von der Unterstützung der Regierung Gutschkow noch von ihrem Sturz; die Arbeiter und Soldaten werden aufgefordert, sich um den Sowjet der Arbeiterdeputierten zu organisieren und Vertreter in den Sowjet zu wählen, zum Kampf gegen den Zarismus, für die Republik, für den Achtstundentag, für die Konfiskation des Grundbesitzes und der Getreidevorräte der Gutsbesitzer sowie – was die Hauptsache ist – für die Beendigung des Raubkrieges. Besonders wichtig und besonders aktuell ist dabei der ganz richtige Gedanke unseres ZK, daß zur Herbeiführung des Friedens Verbindungen mit den Proletariern aller kriegführenden Länder nötig sind.

Den Frieden von Verhandlungen und Unterredungen zwischen den bürgerlichen Regierungen zu erwarten wäre Selbstbetrug und Betrug am Volk.

Das zweite Dokument ist ebenfalls ein telegrafischer Bericht aus Stockholm an ein anderes deutsches Blatt (die „Vossische Zeitung“) über eine Beratung der Tschcheïdse-Fraktion der Duma mit der Trudowikigruppe1 (?Arbeiterfraktion)2 und mit Vertretern von 15 Arbeiterverbänden, die am 2. (15.) März stattgefunden hat, sowie über einen Aufruf, der am darauffolgenden Tag erschien. Von den 11 Punkten dieses Aufrufs teilt das Telegramm nur drei mit: den ersten – die Forderung der Republik, den siebenten – die Forderung des Friedens und der sofortigen Einleitung von Friedensverhandlungen und den dritten – der eine „ausreichende Teilnahme der Vertreter der russischen Arbeiterschaft an der Regierung“ fordert.

Wenn dieser Punkt richtig wiedergegeben ist, so verstehe ich, wofür die Bourgeoisie Tschcheïdse lobt. Ich verstehe, warum sich zu dem von mir schon zitierten Lob der englischen Gutschkowisten in der „Times“ nun auch das Lob der französischen Gutschkowisten im „Temps“ gesellt. Diese Zeitung der französischen Millionäre und Imperialisten schreibt am 22. März: „Die Führer der Arbeiterparteien, besonders Herr Tschcheïdse, bieten ihren ganzen Einfluß auf, um die Wunsche der arbeitenden Klassen zu mäßigen.“

In der Tat ist es theoretisch und politisch ein Unsinn, die „Teilnahme“ von Arbeitern an der Regierung Gutschkow-Miljukow zu fordern: als Minderheit teilnehmen würde bedeuten, nichts zu sagen zu haben; eine „Halbpart“beteiligung ist unmöglich, denn die Forderung, den Krieg fortzusetzen, läßt sich nicht vereinbaren mit der Forderung, einen Waffenstillstand abzuschließen und Friedensverhandlungen einzuleiten; um als Mehrheit „teilzunehmen“, muß man stark genug sein, die Regierung Gutschkow–Miljukow zu stürzen. In der Praxis ist die Forderung der „Teilnahme“ Louis Blanc-Politik schlimmster Art, sie bedeutet, daß man den Klassenkampf und seine realen Bedingungen vergißt, daß man sich an hohlen tönenden Phrasen berauscht, daß man bei den Arbeitern Illusionen weckt, daß man durch Verhandlungen mit Miljukow oder Kerenski wertvolle Zeit vergeudet, die statt dessen dazu verwendet werden muß, eine wirkliche revolutionäre Klassenkraft zu schaffen, eine proletarische Miliz, die imstande ist, allen armen Bevölkerungsschichten, die die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung bilden, Vertrauen einzuflößen, und die imstande ist, ihnen zu helfen, sich zu organisieren, ihnen zu helfen, für Brot, Frieden und Freiheit zu kämpfen.

Dieser Fehler des Aufrufs von Tschcheïdse und seiner Gruppe (ich spreche hier nicht von der Partei des OK, des Organisationskomitees, denn in den mir zugänglichen Quellen wird das OK mit keinem Wort erwähnt) – dieser Fehler ist um so sonderbarer, als Skobelew, der engste Gesinnungsgenosse Tschcheïdses, Zeitungsmeldungen zufolge in der Beratung vorn 2. (15.) März erklärt hat: „Rußland steht am Vorabend einer zweiten, wirklichen Revolution.“

Da hat er die Wahrheit gesagt, nur haben Skobelew und Tschcheïdse vergessen, daraus die praktischen Konsequenzen zu ziehen. Ich kann von hier, von dieser verfluchten Ferne aus, nicht darüber urteilen, wie nahe diese zweite Revolution ist. Skobelew, der sich an Ort und Stelle befindet, kann das besser beurteilen. Ich werfe deshalb keine Fragen auf, für deren Lösung ich keine konkreten Daten habe und auch gar nicht haben kann. Ich betone nur, daß ein „unvoreingenommener Zeuge“, der nicht unserer Partei angehörende Skobelew, die faktische Schlußfolgerung bestätigt, die ich in meinem ersten Brief gezogen habe, nämlich, daß die Februar-März-Revolution nur die erste Etappe der Revolution war. Rußland macht jetzt ein eigenartiges geschichtliches Stadium des Übergangs zu der nächstfolgenden Etappe der Revolution, oder wie Skobelew sich ausdrückt, zur „zweiten Revolution“ durch.

Wenn wir Marxisten sein und aus den Erfahrungen der Revolutionen der ganzen Welt lernen wollen, müssen wir uns bemühen, zu begreifen, worin die Eigenart dieses Übergangsstadiums besteht und welche Taktik sich aus seinen objektiven Besonderheiten ergibt.

Die Eigenart der Lage besteht darin, daß folgende drei Hauptfaktoren der Regierung Gutschkow-Miljukow den ersten Sieg ungewöhnlich leicht gemacht haben: 1. die Hilfe des englisch-französischen Finanzkapitals und seiner Agenten; 2. die Hilfe eines Teils der höheren Offiziere und 3. die fertige Organisation, die die gesamte russische Bourgeoisie in Gestalt der Organe der Semstwos und der städtischen Selbstverwaltung, in Gestalt der Reichsduma, der Kriegsindustriekomitees usw. besaß.

Die Regierung Gutschkow befindet sich in einer Zwickmühle: Gebunden durch die. Interessen des Kapitals, muß ihr Bestreben darauf gerichtet sein, den mörderischen Raubkrieg fortzusetzen, die ungeheuren Gewinne des Kapitals und der Gutsbesitzer zu schützen und die Monarchie wiederherzustellen. Gebunden durch ihren revolutionären Ursprung und durch die Notwendigkeit einer schroffen Wendung vom Zarismus zur Demokratie, unter dem Druck der hungernden und den Frieden fordernden Massen stehend, ist die Regierung gezwungen zu lügen, sich zu drehen und zu winden, Zeit zu gewinnen, möglichst viel zu „proklamieren“ und zu versprechen (Versprechungen sind das einzige, was sogar in Zeiten wahnwitziger Teuerung sehr billig ist), möglichst wenig davon durchzuführen, mit der einen Hand Zugeständnisse zu machen und sie mit der anderen wieder zurückzunehmen.

Unter bestimmten Umständen, in dem für sie günstigsten Fall, kann die neue Regierung, gestützt auf alle organisatorischen Fähigkeiten der gesamten russischen Bourgeoisie und der bürgerlichen Intelligenz, den Zusammenbruch etwas hinausschieben. Aber sogar in diesem Fall ist sie nicht imstande, dem Zusammenbruch zu entgehen, denn es ist unmöglich, sich den Klauen des furchtbaren, vom Weltkapitalismus gezeugten Ungeheuers, des imperialistischen Krieges und der Hungersnot, zu entwinden, ohne den Boden der bürgerlichen Verhältnisse zu verlassen, ohne zu revolutionären Maßnahmen überzugehen, ohne an den großen geschichtlichen Heldenmut des russischen und des internationalen Proletariats zu appellieren.

Daraus folgt: Wir werden die neue Regierung nicht mit einem Schlag stürzen können, oder wir werden, falls uns das gelingt (in revolutionären Zeiten erweitern sich die Grenzen des Möglichen tausendfach), die Macht nicht behaupten können, wenn wir der ausgezeichneten Organisation der gesamten russischen Bourgeoisie und der gesamten bürgerlichen Intelligenz nicht eine ebenso ausgezeichnete Organisation des Proletariats entgegenstellen, des Proletariats als Führer der ganzen unübersehbaren Masse der armen Bevölkerung in Stadt und Land, der Halbproletarier und der kleinen Eigentümer.

Ganz gleich, ob die „zweite Revolution“ in Petrograd schon begonnen hat (ich habe gesagt, daß es ganz unsinnig wäre, vom Ausland aus das Tempo ihres Heranreifens konkret bestimmen zu wollen) oder ob sie für eine gewisse Zeit aufgeschoben ist oder ob sie in einzelnen Gegenden Rußlands schon angefangen hat (gewisse Anzeichen scheinen dafür zu sprechen) – in jedem Fall muß die Losung der Stunde sowohl vor der neuen Revolution als auch während der Revolution und am Tage darauf die proletarische Organisation sein.

Genossen Arbeiter! Ihr habt gestern, als ihr die Zarenmonarchie stürztet, Wunder an proletarischem Heldenmut vollbracht! Ihr werdet in einer mehr oder weniger nahen Zukunft (vielleicht sogar schon jetzt, da ich diese Zeilen schreibe) ebensolche Wunder an Heldenmut vollbringen müssen, um die Macht der Gutsbesitzer und der Kapitalisten, die den imperialistischen Krieg fuhren, zu stürzen. Ihr werdet nicht imstande sein, in dieser nächsten, der „wirklichen“ Revolution, einen dauerhaften Sieg zu erringen, wenn ihr nicht Wunder an proletarischer Organisiertheit vollbringt!

Organisation, das ist die Losung des Tages. Aber sich darauf zu beschränken würde bedeuten, gar nichts zu sagen, denn einerseits ist Organisation immer notwendig, der bloße Hinweis auf die Notwendigkeit der „Organisation der Massen“ erklärt also noch gar nichts, anderseits würde derjenige, der sich hierauf beschränkte, nur zu einem Nachbeter der Liberalen werden, denn die Liberalen, die bestrebt sind, ihre Herrschaft zu festigen, wollen ja gerade, daß die Arbeiter nicht über die gewöhnlichen, „legalen“ (legal vorn Standpunkt der „normalen“ bürgerlichen Gesellschaft) Organisationen hinausgehen, d.h., daß die Arbeiter sich nur die Mitgliedschaft ihrer Partei, ihrer Gewerkschaft, ihrer Genossenschaft usw. usf. erwerben.

Die Arbeiter haben mit ihrem Klasseninstinkt begriffen, daß sie in einer revolutionären Zeit eine ganz andere und nicht nur die gewöhnliche Organisation brauchen, sie haben ganz richtig den Weg beschritten, den ihnen die Erfahrungen unserer Revolution von 1905 und der Pariser Kommune von 1871 gewiesen haben, sie haben den Sowjet der Arbeiterdeputierten geschaffen und haben begonnen, durch Heranziehung von Deputierten der Soldaten und zweifellos auch von Deputierten der landwirtschaftlichen Lohnarbeiter und dann auch (in der einen oder anderen Form) der gesamten armen Bauernschaft, den Sowjet auszubauen, zu erweitern und zu festigen.

Die Bildung solcher Organisationen in ausnahmslos allen Teilen Rußlands, für alle Berufe und Schichten der proletarischen und halbproletarischen Bevölkerung, d.h. für alle Werktätigen und Ausgebeuteten, um einen Ausdruck zu gebrauchen, der zwar ökonomisch weniger genau, dafür aber populärer ist – das ist heute die wichtigste, keinen Aufschub duldende Aufgabe. Ich will hier vorgreifen und bemerken, daß unsere Partei (auf ihre besondere Rolle in den proletarischen Organisationen neuen Typus hoffe ich in einem der folgenden Briefe eingehen zu können) für die gesamte Masse der Bauernschaft besonders empfehlen muß, daß spezielle Sowjets der Lohnarbeiter und dann auch der kleinen, kein Getreide verkaufenden Bauern, getrennt von den wohlhabenden Bauern, gebildet werden; ohne diese Bedingung kann, allgemein gesagt, weder eine wirklich proletarische Politik betrieben werden3 noch die wichtigste praktische Frage, die für Millionen von Menschen eine Lebensfrage ist, in Angriff genommen werden: die richtige Verteilung des Getreides, die Steigerung der Getreideerzeugung usw.

Was sollen aber die Sowjets der Arbeiterdeputierten tun? Sie „müssen als Organe des Aufstands, als Organe der revolutionären Staatsmacht betrachtet werden“, schrieben wir in Nr. 47 des Genfer „Sozial-Demokrat“ am 13. Oktober 1915.4

Dieser theoretische Satz, abgeleitet aus den Erfahrungen der Kommune von 1871 und der russischen Revolution von 1905, muß auf Grund der Praxis der gegenwärtigen Etappe der gegenwärtigen Revolution in Rußland erläutert und konkreter entwickelt werden.

Wir brauchen eine revolutionäre Staatsmacht, wir brauchen (für eine bestimmte Übergangsperiode) den Staat. Dadurch unterscheiden wir uns von den Anarchisten. Der Unterschied zwischen den revolutionären Marxisten und den Anarchisten besteht nicht nur darin, daß jene für die zentralisierte, kommunistische Großproduktion, diese aber für eine zersplitterte Produktion in Kleinbetrieben sind. Nein, der Unterschied gerade in der Frage der Staatsmacht, des Staates, besteht darin, daß wir für die revolutionäre Ausnützung der revolutionären Formen des Staates zum Kampf für den Sozialismus, die Anarchisten aber dagegen sind.

Wir brauchen den Staat, aber wir brauchen nicht einen solchen Staat, wie ihn allerorts die Bourgeoisie geschaffen hat, von den konstitutionellen Monarchien bis zu den allerdemokratischsten Republiken. Und darin unterscheiden wir uns von den Opportunisten und Kautskyanern der alten, von Fäulnis erfaßten sozialistischen Parteien, die die Lehren der Pariser Kommune und die Analyse dieser Lehren durch Marx und Engels entstellt oder vergessen haben.5

Wir brauchen einen Staat, aber nicht einen solchen, wie ihn die Bourgeoisie braucht, mit Machtorganen, die vom Volk getrennt sind und dem Volk entgegengestellt werden, wie Polizei, Armee und die Bürokratie (Beamtentum). Alle bürgerlichen Revolutionen haben diese Staatsmaschine lediglich vervollkommnet, lediglich einer Partei genommen und einer anderen übergeben.

Das Proletariat aber muß, wenn es die Errungenschaften der gegenwärtigen Revolution behaupten und weitergehen will, wenn es Frieden, Brot und Freiheit erringen will, diese „fertige“ Staatsmaschine, um Marx’ Worte zu gebrauchen, „zerbrechen“ und sie durch eine neue ersetzen, bei der Polizei, Armee und Bürokratie mit dem bis auf den letzten Mann bewaffneten Volk zu einer Einheit verschmolzen sind. Wie die Erfahrungen der Pariser Kommune von 1871 und der russischen Revolution von 1905 zeigen, muß das Proletariat alle armen, ausgebeuteten Teile der Bevölkerung organisieren und bewaffnen, damit sie die Organe der Staatsmacht selbst und unmittelbar in ihre Hände nehmen, damit sie selbst die Institutionen dieser Staatsmacht bilden.

Die Arbeiter Rußlands haben diesen Weg schon in der ersten Etappe der ersten Revolution im Februar-März 1917 beschritten. Die Aufgabe besteht jetzt darin, klar zu begreifen, welches dieser neue Weg ist, und ihn kühn, unbeirrt und beharrlich weiterzugehen.

Die englisch-französischen und die russischen Kapitalisten wollten „nur“ Nikolaus II. absetzen oder ihn vielleicht sogar nur „einschüchtern“, die alte Staatsmaschine, die Polizei, die Armee, das Beamtenturn, aber unversehrt lassen.

Die Arbeiter sind weitergegangen und haben sie zerbrochen. Und jetzt heulen nicht nur die englisch-französischen, sondern auch die deutschen Kapitalisten vor Wut und Angst, wenn sie z.B. sehen, wie die russischen Soldaten ihre Offiziere erschießen, auch wenn sie, wie der Admiral Nepenin, Parteigänger von Gutschkow und Miljukow sind.

Ich habe gesagt, daß die Arbeiter die alte Staatsmaschine zerbrochen haben. Genauer gesagt, sie haben begonnen, sie zu zerbrechen.

Nehmen wir ein konkretes Beispiel.

Die Polizei ist in Petrograd und an vielen anderen Orten teils niedergemacht, teils abgesetzt worden. Die Regierung Gutschkow-Miljukow wird nicht die Monarchie wiederherstellen noch sich überhaupt an der Macht halten können, wenn sie nicht die Polizei wiederherstellt als eine besondere, vom Volk losgelöste und ihm entgegengestellte Organisation von bewaffneten Menschen, die dem Kommando der Bourgeoisie unterstellt sind. Das ist sonnenklar.

Anderseits muß die neue Regierung auf das revolutionäre Volk Rücksicht nehmen, muß es mit halben Zugeständnissen und Versprechungen hinhalten, muß Zeit gewinnen. Deshalb greift sie zu einer halbschlächtigen Maßnahme: Sie errichtet eine „Volksmiliz“ mit gewählten Vorgesetzten (das klingt furchtbar anständig! furchtbar demokratisch, revolutionär und schön!), aber … aber erstens wird sie der Kontrolle, der Leitung der Semstwos und der städtischen Selbstverwaltungen, d.h. den Gutsbesitzern und Kapitalisten unterstellt, die auf Grund der Gesetze Nikolaus’ des Blutigen und Stolypins des Henkers gewählt worden sind!! Zweitens nennt die Regierung diese Miliz eine „Volksmiliz“, um dem „Volk“ Sand in die Augen zu streuen, in Wirklichkeit aber fordert sie das Volk nicht auf, sich ausnahmslos an dieser Miliz zu beteiligen, verpflichtet sie die Unternehmer und die Kapitalisten nicht, den Angestellten und Arbeitern für die Stunden und Tage, die sie dem öffentlichen Dienst, d.h. der Miliz widmen, den üblichen Lohn auszuzahlen.

Hier liegt der Hund begraben. Auf diesem Wege erreicht die Gutsbesitzer- und Kapitalistenregierung der Gutschkow und Miljukow, daß die „Volksmiliz“ nur auf dem Papier steht, während in Wirklichkeit allmählich und im stillen eine bürgerliche, gegen das Volk gerichtete Miliz wiederhergestellt wird, zunächst aus „8000 Studenten und Professoren“ (so schildern die ausländischen Zeitungen die heutige Petrograder Miliz) – offenkundig ein Kinderspielzeug! –, dann aber allmählich aus der alten und einer neuen Polizei.

Die Wiederherstellung der Polizei nicht zulassen! Die lokalen Machtorgane nicht aus der Hand geben! Eine wirklich das ganze Volk umfassende, absolut allgemeine, vom Proletariat geführte Miliz schaffen! – das ist die Aufgabe des Tages, das ist die Losung des gegenwärtigen Augenblicks, die sowohl den richtig verstandenen Interessen des weiteren Klassenkampfes, der weiteren revolutionären Bewegung als auch dem demokratischen Instinkt jedes Arbeiters, jedes Bauern, jedes werktätigen und ausgebeuteten Menschen entspricht; denn jeder von ihnen haßt unbedingt die Polizei, die Büttel und Gendarmen, haßt die Befehlsgewalt der Gutsbesitzer und Kapitalisten über bewaffnete Menschen, denen Macht über das Volk gegeben wird.

Was für eine Polizei brauchen sie, die Gutschkow und Miljukow, die Gutsbesitzer und Kapitalisten? Die gleiche wie unter der Zarenmonarchie. Alle bürgerlichen und bürgerlich-demokratischen Republiken der Welt haben eine solche Polizei – eine besondere Organisation vorn Volk losgelöster, ihm entgegengestellter bewaffneter Menschen, die auf die eine oder andre Weise der Bourgeoisie unterstellt sind – geschaffen oder nach kurzen revolutionären Perioden wiederhergestellt.

Was für eine Miliz brauchen wir, braucht das Proletariat, brauchen alle Werktätigen? Eine wirkliche Volksmiliz, d.h. eine Miliz, die erstens wirklich aus der gesamten Bevölkerung, aus allen erwachsenen Bürgern beiderlei Geschlechts besteht und die zweitens die Funktion einer Volksarmee mit polizeilichen Funktionen, mit den Funktionen des wichtigsten und hauptsächlichen Organs der staatlichen Ordnung und der staatlichen Verwaltung verbindet.

Um diese Gedanken möglichst anschaulich darzulegen, will ich ein rein schematisches Beispiel anführen. Natürlich wäre der Gedanke, irgendeinen „Plan“ der proletarischen Miliz aufzustellen, unsinnig: wenn die Arbeiter und das ganze Volk wirklich in ihrer Masse die Sache praktisch in Angriff nehmen, so werden sie alles hundertmal besser ausarbeiten und einrichten als irgendwelche Theoretiker. Ich schlage keinen „Plan“ vor, ich will nur meinen Gedankengang illustrieren.

Petrograd hat eine Bevölkerung von etwa 2 Millionen, davon über die Hälfte im Alter von 15 bis 65 Jahren. Sagen wir die Hälfte, eine Million. Ziehen wir sogar noch ein gutes Viertel ab: Kranke und andere, die sich zur Zeit aus triftigen Gründen nicht dem öffentlichen Dienst widmen können. Es bleiben 750 000 Menschen, die, wenn sie z.B. jeden 15. Tag in der Miliz arbeiteten (und für diese Zeit vom Unternehmer ihren Lohn weiter erhielten), eine Armee von 50 000 Menschen bilden würden.

Ein „Staat“ von solchem Typus ist es, was wir brauchen!

Eine solche Miliz wäre in Wirklichkeit – und nicht nur dem Namen nach – eine „Volksmiliz“.

Das ist der Weg, den wir einschlagen müssen, damit keine besondere Polizei und keine besondere; vom Volk getrennte Armee wiederhergestellt werden kann.

Eine solche Miliz würde zu 95 Prozent aus Arbeitern und Bauern bestehen und wirklich die Vernunft und den Willen, die Kraft und die Macht der überwältigenden Mehrheit des Volkes zum Ausdruck bringen. Eine solche Miliz wurde wirklich ausnahmslos das ganze Volk bewaffnen und im Militärwesen ausbilden und es auf eine nicht Gutschkowsche, nicht Miljukowsche Weise gegen alle Versuche, die Reaktion zu restaurieren, gegen alle Umtriebe der Zarenagenten sichern. Eine solche Miliz wäre das ausführende Organ der „Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten“, sie würde die absolute Achtung und das absolute Vertrauen der Bevölkerung genießen, denn sie wäre selbst eine Organisation ausnahmslos der ganzen Bevölkerung. Eine solche Miliz würde dafür sorgen, daß die Demokratie kein hübsches Aushängeschild bleibt, das die Versklavung des Volkes und die Verhöhnung des Volkes durch die Kapitalisten verdeckt, sondern eine wirkliche Erziehung der Massen zur Teilnahme an allen Staatsgeschäften darstellt. Eine solche Miliz Würde die Jugendlichen in das politische Leben einbeziehen und sie nicht nur durch das Wort, sondern auch durch die Tat, durch die Arbeit erziehen. Eine solche Miliz würde jene Funktionen entwickeln, die – um es gelehrt auszudrücken – in das Gebiet der „Wohlfahrtspolizei“, der sanitären Kontrolle usw. gehören, und würde alle erwachsenen Frauen zu solchen Funktionen heranziehen. Denn ohne die Frauen zum öffentlichen Dienst, zur Miliz, zum politischen Leben heranzuziehen, ohne die Frauen aus ihrer abstumpfenden Haus- und Kuchenatmosphäre herauszureißen, kann keine wirkliche Freiheit gewährleistet werden, kann nicht einmal die Demokratie, vom Sozialismus ganz zu schweigen, aufgebaut werden.

Eine solche Miliz würde eine proletarische Miliz sei, denn die industriellen und städtischen Arbeiter würden in dieser Miliz ebenso natürlich und unvermeidlich einen entscheidenden Einfluß auf die Masse der armen Bevölkerung gewinnen, wie sie im ganzen revolutionären Kampf des Volkes in den Jahren 1905 – 1907 und im Jahre 1917 natürlich und unvermeidlich die führende Stellung innehatten.

Eine solche Miliz würde absolute Ordnung und unverbrüchliche kameradschaftliche Disziplin gewährleisten. Gleichzeitig aber würde sie es in der schweren Krise, die alle kriegführenden Länder jetzt durchmachen, ermöglichen, diese Krise wirklich demokratisch zu bekämpfen, die Verteilung von Brot und anderen Lebensmitteln richtig und schnell vorzunehmen und die „allgemeine Arbeitspflicht“ durchzuführen, die von den Franzosen jetzt „Zivilmobilmachung“ und von den Deutschen „Vaterländischer Hilfsdienst“ genannt wird und ohne die die Wunden, die der schreckliche Raubkrieg geschlagen hat, nicht – erwiesenermaßen nicht – geheilt werden können.

Hat das Proletariat Rußlands sein Blut nur vergossen, um sich jetzt großartig lediglich politische demokratische Reformen versprechen zu lassen? Wird es etwa nicht fordern und durchsetzen, daß jeder Werktätige sofort eine gewisse Besserung seiner Lebenshaltung zu sehen und zu spüren bekommt? Daß jede Familie Brot hat? Daß jedes Kind eine Flasche guter Milch bekommt und kein Erwachsener aus einer reichen Familie es wagen kann, Milch in Anspruch zu nehmen, solange die Kinder noch nicht versorgt sind? Daß die Paläste und Luxuswohnungen, die der Zar und die Aristokratie hinterlassen haben, nicht leer stehen, sondern den Obdachlosen und Besitzlosen als Heim dienen? Wer kann diese Maßnahmen durchführen, wenn nicht eine allgemeine Volksmiliz, an der die Frauen unbedingt gleichberechtigt mit den Männern teilnehmen?

Solche Maßnahmen sind noch kein Sozialismus. Sie betreffen die Regelung der Konsumtion, nicht aber die Reorganisation der Produktion. Sie waren noch keine „Diktatur des Proletariats“, sondern nur eine „revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der armen Bauernschaft“. Doch nicht darum geht es jetzt, wie diese Maßnahmen theoretisch zu klassifizieren sind. Es wäre der größte Fehler, wenn wir die komplizierten, aktuellen, sich raschentwickelnden praktischen Aufgaben der Revolution in das Prokrustesbett einer zu eng verstandenen „Theorie“ zwängten, statt in der Theorie vor allem und in erster Linie eine Anleitung zum Handeln zu sehen.

Wird die Masse der russischen Arbeiter so viel Klassenbewußtsein, Standhaftigkeit und Heldenmut aufbringen, um „Wunder an proletarischer Organisation“ zu vollbringen, nachdem sie im unmittelbaren revolutionären Kampf Wunder an Kühnheit, Initiative und Selbstaufopferung vollbracht hat? Das wissen wir nicht, und es wäre müßig, hier prophezeien zu wollen, denn nur die Praxis kann solche Fragen beantworten.

Was wir genau wissen, und was wir als Partei den Massen klarmachen müssen, das ist einerseits die Tatsache, daß eine geschichtliche Triebkraft von ungeheurer Starke vorhanden ist, die in nie gekanntem Ausmaß Krise, Hungersnot und namenloses Elend erzeugt. Diese Triebkraft ist der Krieg, der von den Kapitalisten beider kriegführenden Seiten um räuberischer Ziele willen geführt wird. Diese „Triebkraft“ hat eine ganze Reihe der reichsten, freiesten und aufgeklärtesten Nationen an den Rand des Abgrunds gebracht. Sie zwingt die Völker, alle Kräfte bis aufs äußerste anzuspannen, sie bringt sie in eine unerträgliche Lage, sie stellt nicht die Verwirklichung irgendwelcher „Theorien“ auf die Tagesordnung (davon ist gar keine Rede, und Marx hat die Sozialisten vor dieser Illusion stets gewarnt), sondern die Durchführung der radikalsten praktisch möglichen Maßnahmen, denn ohne radikale Maßnahmen kann der Untergang, der baldige und unaufhaltsame Untergang von Millionen Menschen infolge der Hungersnot, nicht vermieden werden.

Daß die revolutionäre Begeisterung der fortgeschrittenen Klasse unter Verhältnissen, bei denen die objektive Lage vom ganzen Volk radikale Maßnahmen verlangt, vieles vermag, braucht nicht erst bewiesen zu werden. Das sieht, und fühlt in Rußland ein jeder.

Es ist wichtig, zu begreifen, daß sich die objektive Lage in revolutionären Zeiten ebenso rasch und schroff ändert, wie das Leben in solchen Zeiten überhaupt rasch pulsiert. Wir aber müssen es verstehen, unsere Taktik und unsere nächsten Aufgaben den Besonderheiten jeder gegebenen Situation anzupassen. Bis zum Februar 1917 handelte es sich darum, eine kühne revolutionär-internationalistische Propaganda zu treiben, die Massen zum Kampf zu rufen und sie aufzurütteln. In den Februar- und Märztagen war der Heldenmut aufopferungsvollen Kampfes erforderlich, um den unmittelbaren Feind, den Zarismus, sofort zu zerschlagen. Jetzt machen wir das Stadium des Übergangs von dieser ersten Etappe der Revolution zur zweiten Etappe durch, vom „Waffengang“ mit dem Zarismus zum „Waffengang“ mit dem Imperialismus der Gutschkow und Miljukow, der Gutsbesitzer und Kapitalisten. Auf der Tagesordnung steht die Aufgabe der Organisation, diese Aufgabe darf aber keinesfalls schablonenhaft aufgefaßt werden, in dem Sinne, daß man lediglich daran arbeitet, die der alten Schablone entsprechenden Organisationen zu entwickeln, sondern in dem Sinne, daß beispiellos breite Massen der unterdrückten Klassen zur Organisation herangezogen werden und daß eben diese Organisation die militärischen, staatlichen und volkswirtschaftlichen Aufgaben erfüllt.

An die Lösung dieser spezifischen Aufgabe geht das Proletariat auf verschiedenen Wegen heran. An manchen Orten Rußlands hat ihm die Februar-März-Revolution beinahe. die volle Macht gegeben, an anderen Orten wird es vielleicht „eigenmächtig“ eine proletarische Miliz schaffen und ausbauen, wieder an anderen Orten wird es möglicherweise auf der Grundlage des allgemeinen usw. Wahlrechts sofortige Wahlen zu den Stadtdumas und Semstwos fordern, um sie in revolutionäre Zentren zu verwandeln, usf., bis das Wachstum der proletarischen Organisiertheit, die Annäherung zwischen Soldaten und Arbeitern, die Bewegung in der Bauernschaft und die um sich greifende Enttäuschung über die Gutschkow-Miijukow-Regierung, diese Regierung des Krieges und des Imperialismus, die Stunde herbeiführt, da diese Regierung von der „Regierung“ des Sowjets der Arbeiterdeputierten abgelöst wird.

Vergessen wir auch nicht, daß in nächster Nähe von Petrograd eines der fortgeschrittensten, faktisch republikanischen Länder liegt – Finnland, das in den Jahren von 1905 bis 1917, gedeckt durch die revolutionären Kämpfe in Rußland, ziemlich friedlich die Demokratie entwickelt und die Mehrheit des Volkes für den Sozialismus gewonnen hat. Das russische Proletariat wird der Republik Finnland volle Freiheit gewähren, einschließlich der Freiheit der Lostrennung (jetzt, wo der Kadett Roditschew in Helsingfors so würdelos um jedes Stückchen der Privilegien der Großrussen schachert, schwankt wahrscheinlich kein einziger Sozialdemokrat mehr in dieser Frage), und wird gerade dadurch das volle Vertrauen und die kameradschaftliche Hilfe der finnischen Arbeiter für die Sache des Proletariats von ganz Rußland erlangen. Bei einem großen und schwierigen Werk sind Fehler nicht zu vermeiden, und auch wir werden sie nicht vermeiden können; die finnischen Arbeiter sind bessere Organisatoren, sie werden uns auf diesem Gebiet helfen, sie werden die Errichtung der sozialistischen Republik auf ihre Weise fördern.

Revolutionäre Siege in Rußland selbst – friedliche organisatorische Erfolge in Finnland unter dem Schutz dieser Siege –, der Übergang der russischen Arbeiter zu revolutionären organisatorischen Aufgaben in neuem Maßstab, die Eroberung der Macht durch das Proletariat und die armen Schichten der Bevölkerung, die Forderung und Entwicklung der sozialistischen Revolution im Westen – das ist der Weg, der uns zum Frieden und zum Sozialismus führen wird.

Zürich, 11. (24.) März 1917

N. Lenin

Zuerst veröffentlicht 1924 in der Zeitschrift „Kommunistitscheski Internazional“ Nr. 3 – 4.

Nach dem Manuskript.


1Trudowiki, „Trudowikigruppe“ — eine Gruppe kleinbürgerlicher Demokraten, die im April 1906 entstand und sich aus Bauernabgeordneten der I. Reichsduma zusammensetzte. Die Trudowikifraktion existierte in allen vier Dumas. In den Jahren des imperialistischen Weltkriegs 1914 – 1918 standen die meisten Trudowiki auf sozialchauvinistischen Positionen. 1917 verschmolz die „Trudowikigruppe“ mit der Partei der „Volkssozialisten“ und unterstützte aktiv die bürgerliche Provisorische Regierung. Nach der Sozialistischen Oktoberrevolution gingen die Trudowiki auf die Seite der bürgerlichen Konterrevolution über.

2 „(? Arbeiterfraktion)“ von Lenin deutsch eingefügt. Der Übers.

3 Auf dem Lande wird jetzt der Kampf um die Klein- und teilweise auch um die Mittelbauern entbrennen. Die Gutsbesitzer werden sie, gestützt auf die wohlhabenden Bauern, der Bourgeoisie unterordnen wollen. Wir müssen, gestützt auf die landwirtschaftlichen Lohnarbeiter und die armen Bauern, auf ein enges Bündnis zwischen diesen Klein- und Mittelbauern und dem städtischen Proletariat hinarbeiten.

4 Siehe Werke, Bd. 21, S. 409. Die Red.

5 In einem der nächsten Briefe oder in einem besonderen Artikel werde ich ausführlich auf diese Analyse eingehen, die insbesondere im „Bürgerkrieg in Frankreich“ von Marx und Engels‘ Einleitung zur dritten Auflage dieser Schrift enthalten ist, ferner in dem Brief von Marx vom 12. IV. 1871 und von Engels vom 18.-28. III. 1875; außerdem werde ich zeigen, wie Kautsky 1912 in der Polemik gegen Pannekoek zur Frage der sogennanten „Zerstörung des Staates“ den Marxismus völlig entstellt hat.