Zur Geschichte des Hamburger Aufstandes 1923: Viertes Kapitel

VIERTES KAPITEL

Am Vorabend des Hamburger Aufstandes

Das Beispiel, das die Arbeiter der Deutschen Werft mit ihrem Streik am 20. Oktober gegeben hatten, fand in den meisten Hamburger Großbetrieben starken Widerhall. In den Betrieben, in denen schon seit Tagen wenig gearbeitet und viel diskutiert wurde, rangen die Funktionäre der Kommunistischen Partei und die der Sozialdemokratie um den Einfluß auf die Mehrheit der Betriebsarbeiter. Die Losungen der reformistischen Gewerkschaftsführer hatten sich bereits in der vorangegangenen Woche als immer wirkungsloser erwiesen. Entgegen aller antikommuistischen Hetze der VSPD-Führer war die Zahl der betrieblichen Aktionsausschüsse, in denen Sozialdemokraten und Kommunisten auf paritätischer Grundlage arbeiteten, sprunghaft angewachsen. Diese Aktionsausschüsse die Keimformen politischer Arbeiterräte waren, gewannen dank der unermüdlichen Überzeugungsarbeit der kommunistischen Agitatoren immer mehr die Führung in den Betrieben.1 Die Lage könne, so erklärten den Arbeitern besonders die Jungkommunisten, nur dann grundlegend gebessert werden, wenn man der herrschenden Klasse die Macht entreiße und in die Hände der Arbeiterklasse lege. Das erfordere aber Kampf. Es sei an der Zeit, diesen Kampf aufzunehmen.2 Am Montag, dem 22. Oktober, wurde in allen Werft-, Hafen- und Baubetrieben Hamburgs die Ausrufung des Generalstreiks gefordert. Die Arbeiter aller Werften traten als erste in den Streik.3 Ihnen folgten 20 700 Arbeiter der Hafen-, Lagerhaus- und Kohlenlagerbetriebe,4 so daß in den ersten Nachmittagsstunden die Arbeit im ganzen Hafengebiet ruhte. Die Streikenden versammelten sich auf den Straßen. Überall bildeten sich Diskussionsgruppen, die hier und dort zu größeren Menschenansammlungen anschwollen. Jedermann sprach davon, daß am Dienstag der Generalstreik ausgerufen werde. Zur selben Zeit traten auch 1500 Bauarbeiter von 20 Betrieben in den Streik.5 Die hamburgische Bourgeoisie bemerkte mit Sorge, daß diese Streikbewegung „den Keim politischer Unruhe“6 in sich trage.

Alle Anzeichen deuteten auf ein weiteres Anwachsen der Bewegung hin. Der „Hamburgische Correspondent“ appellierte in seinem Bericht über die Streikbewegung an den Senat, den „rücksichtslosesten Willen“ zu bekunden, um „alle Elemente unschädlich zu machen, die – von welcher Seite auch immer – an der bestehenden Ordnung rütteln wollen“7. Die Werftbesitzer warteten aber nicht erst auf die Initiative des Senats. Sie griffen selbst zum rücksichtslosesten Mittel, das ihnen noch zur Verfügung stand; sie verkündeten die Entlassung aller Streikenden.8

Zur gleichen Zeit unternahmen die VSPD-Führer einen neuen Versuch, die aufbegehrenden Massen wieder fest unter ihre Führung zu bringen. Der sozialdemokratische Bürgerschaftsabgeordnete Ehrenteit lud Vertreter der KPD, VSPD und USPD zu einer Besprechung mit Vertretern des ADGB im Rathaus ein. Die Gewerkschaftsführer schlugen einen Demonstrationsstreik vor, der jedoch „nicht nur ein örtlicher sein dürfe und daher im Einvernehmen mit den Berliner Spitzenorganisationen erfolgen müsse“9.

Wie aufrichtig dieser Vorschlag auch gewesen sein mag, objektiv lief er darauf hinaus, der Reichsregierung die Zeit zu geben, die sie brauchte, um in Sachsen die „Arbeiterregierung“ zu verjagen und die deutsche Arbeiterklasse vor vollendete Tatsachen zu stellen.

daß die rechten VSPD-Führer den von der KPD geforderten verschärften örtlichen Generalstreik nicht wollten, zeigte sich sofort, denn während sich die „linken“ sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer noch lebhaft bemühten, die KPD-Vertreter für ihren Demonstrationsstreik zu gewinnen, gab der sozialdemokratische Polizeisenator vom Vorzimmer des Verhandlungsraumes aus den ihm unterstellten Behörden telefonisch die Anweisung für ein Streikverbot in allen sogenannten lebenswichtigen Betrieben. Diese Anweisung war bereits vorher mit dem Wehrkreisbefehlshaber vereinbart worden, wobei man so viele Betriebe wie möglich für lebenswichtig erklärt hatte. Einer der KPD-Vertreter wurde zufällig Zeuge dieses Telefongespräches, und die Kommunisten verließen bald darauf die Beratung.10

Mittlerweile regte es sich erneut unter den Erwerbslosen. Diese täglich größer werdende Gruppe von Arbeitern solidarisierte sich am weitestgehenden mit den Losungen der KPD. Das zeigte sich besonders deutlich am Arbeitsnachweis am Baumwall, wo sich, wie üblich, viele Erwerbslose angesammelt hatten. Wie überall, wo sich Massen ansammelten, fehlten auch hier nicht die Agitatoren der KPD. Einer von ihnen verteilte die neueste Ausgabe der illegal erscheinenden „Hamburger Volkszeitung“. Zwei Polizisten der kasernierten Ordnungspolizei stürzten sich auf den Zeitungsverteiler, um ihm die Zeitungen zu entreißen. Aber statt der Zeitungen erhielten sie Schläge. Die Masse der Erwerbslosen nahm tatkräftig Partei für den Verteiler, griff die Beamten mit Waffen und Fäusten an und vertrieb sie.11 Die Erwerbslosen waren offensichtlich bereit, mit den Kommunisten den gewaltsamen Kampf gegen die Hüter der kapitalistischen Ordnung aufzunehmen.

Indem die hamburgische Bourgeoisie aus der ganzen Stadt Nachrichten über aufkeimende politische Unruhen erhielt und sich um die Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft sorgte, ereilte sie noch von anderer Seite ein nicht geringer Schrecken. In der Stadt entbrannte ein Kleinkrieg um Brot. Alles versuchte für das letzte Inflationsgeld, dessen Wert wie Schnee in den Händen zerrann, Brot zu kaufen; denn ein Brot von 1600 Gramm, das am 20. Oktober 1,66 Milliarden Mark gekostet hatte, sollte am Dienstag, dem 23. Oktober, 4,2 Milliarden Mark kosten.12 Hausfrauen und Werktätige hetzten am Nachmittag von Geschäft zu Geschäft. Aber die Mühe war zumeist vergebens. In den meisten Geschäften war das Brot entweder bereits ausverkauft oder in gewinnsüchtiger Absicht beiseite geschafft worden. Enttäuscht sammelten sich die Hungernden in den Geschäftsstraßen. Je größer ihre Zahl, desto unhaltbarer mußte ihnen die Lage erscheinen, die sie mit wachsender Erregung diskutierten. Alles war ungewiß; allen galt nur als sicher, daß am nächsten Tag das Geld noch wertloser und das Brot noch unerschwinglicher sein werde. Diese Ausweglosigkeit gebar Verzweiflung. Bürgerliches Gesetz und Erscheinen der Ordnungspolizei schreckten nicht mehr. Wo sich Gelegenheit bot, verhalf jetzt Gewalt zum Brot. Mit Drohungen entriß man den Bäckern die Ware und erzwang bei vielen niedrigere Preise. Verwegene Burschen sprangen auf Brotwagen und warfen, ehe sich‘s die Kutscher versahen, die kostbare Fracht unter die hungrige Menge. Das geschah einmal hier, einmal dort. Die Polizisten, die seit Tagen in höchster Alarmbereitschaft standen, hasteten hin und her, kamen aber meist zu spät. So ermüdete das hungrige Volk seine Unterdrücker. In einigen Fällen wurden die Polizisten bereits energisch angegriffen.13 Erschreckt fragten Vertreter der hamburgischen Bourgeoisie: „Soll es wieder, wie vor einem Lustrum, zu verderblicher Entladung kommen dürfen?“14 Es fiel aber den Kreisen, die den großkapitalistischen „Hamburgischen Correspondenten“ beeinflußten und redigierten, nichts Besseres ein, als das hungernde Volk mit einem chauvinistischen Hinweis auf Frankreich zum Durchhalten aufzufordern. „Nein, es soll jetzt“, so hieß es an der gleichen Stelle, „wo dem Erb- und Erzfeinde aller Deutschen . . . Erfüllung seiner satanischen Pläne winkt, nie und nimmer deutsche Hilfe sein, die diese Erfüllung bringt; deutsche Hilfe, die ihm jeder leisten würde … der an Ruhe und Ordnung tastet, der seinen Eigenwillen höherstellt als das gewaltige Gebot der Stunde.“ Wie so oft, wurde auch diesmal von den bürgerlichen Ideologen der drohende Untergang der kapitalistischen Herrschaft in einen angeblichen Untergang aller Kultur und Zivilisation umgefälscht. Doch wo bereits zügelloseste kapitalistische Wirtschaftsanarchie raste, hatte diese verlogene Drohung keine Wirkung mehr. Von Mund zu Mund verbreitete sich die Nachricht, daß fast die gesamte Reichswehr Norddeutschlands nach Mitteldeutschland abtransportiert werde. Man hatte Truppentransporte gesehen und Maßnahmen zur Einkleidung der Schwarzen Reichswehr bemerkt. Alle Bevölkerungsteile, die bereits mit der herrschenden Klasse in Fehde lagen oder im Zuge der Streikbewegung harte Kämpfe mit den Ausbeutern zu erwarten hatten, begriffen sehr schnell, daß der Abzug der Reichswehr im Augenblick die eigenen Positionen stärkte. Das löste trotz der allgemeinen Empörung über den Einmarsch der Reichswehr in Sachsen vielfach Begeisterung aus. Noch mehr füllten sich die Hauptstraßen Hamburgs mit Massen hungriger Menschen.15

Gegen Abend trat die Oberleitung des KPD-Oberbezirks Nordwest zur entscheidenden Sitzung zusammen. Nachrichten über den Ausgang der Chemnitzer Konferenz waren noch immer nicht bei der Leitung eingetroffen.16 Was war in dieser Lage zu tun? Ernst Thälmann, der die Beratung leitete, hatte auf dem III. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale aus Lenins Munde gehört, wie marxistische Führer der Arbeiterklasse in einer revolutionären Situation zu handeln haben. Lenin berichtete damals unter anderem über das Verhalten der Bolschewiki im Oktober 1917 und sagte: „Als wir seinerzeit die internationale Revolution begannen, taten wir es nicht in dem Glauben, daß wir der Entwicklung der Revolution vorgreifen könnten, sondern deshalb, weil eine ganze Reihe von Umständen uns veranlaßte, diese Revolution zu beginnen. Wir dachten: Entweder kommt uns die internationale Revolution zu Hilfe, dann ist unser Sieg ganz sicher, oder wir machen unsere bescheidene revolutionäre Arbeit in dem Bewußtsein, daß wir im Falle einer Niederlage immerhin der Sache der Revolution nützen, daß unsere Erfahrungen den anderen Revolutionen von Nutzen sein werden.17

In solchem bolschewistischem Geiste leitete Ernst Thälmann die Sitzung. Es war zu entscheiden, ob man weiterhin auf die Nachricht vom Generalstreikbeschluß warten oder ohne sie den bewaffneten Aufstand auslösen sollte. Wie der damalige militärische Leiter des KPD-Oberbezirks Nordwest sich erinnert, forderte, Ernst Thälmann die Leitungsmitglieder auf, zur entstandenen Lage Stellung zu nehmen. Unter dem Eindruck der Nachrichten vom Einmarsch der Reichswehr in Sachsen vertrat die überwiegende Mehrheit die Ansicht, daß man durch einen Aufstand in Hamburg den Aufmarsch der Reichswehr gegen Mitteldeutschland stören und den allgemeinen bewaffneten Aufstand in Deutschland von Norden her entfalten müsse. Weil in Deutschland eine akut revolutionäre Krise herrschte, die sich Mitte Oktober in Hamburg außerordentlich verschärft hatte, beschloß die Oberleitung, trotz des Ausbleibens von Nachrichten über den Verlauf der Chemnitzer Konferenz, in Hamburg loszuschlagen. Wie der Ausgang einer solchen Aktion auch ausfallen möge, so entschied sie, am 23. Oktober sei in Hamburg mit dem bewaffneten Aufstand zu beginnen. Hamburg müsse mit seinem Beispiel die deutsche Arbeiterklasse mitreißen.18 Ernst Thälmann und die Mehrzahl seiner Kampfgefährten standen auf der Höhe ihrer historischen Aufgabe. Welche militärischen Kräfte standen der Oberleitung in Hamburg zur Verfügung? Sie konnte sich in der Hauptsache auf den sogenannten Ordnerdienst (OD) stützen. Das war der militärische Kern der proletarischen Hundertschaften, der sich aus den mutigsten und der Partei ergebensten Genossen der Wohnbezirke organisiert hatte; Unterste Einheit war die Gruppe, die aus acht Mann und einem Gruppenführer bestand. Vier Gruppen bildeten einen Trupp mit einem Truppführer. Vier Trupps vereinigten sich zu einer Abteilung, und zwei Abteilungen bildeten einen Zug. So gab es zum Beispiel Mitte Oktober im OD-Oberdistrikt B, der sich über die Stadtteile Hohenfelde, Eilbeck, Barmbeck, Bramfeld, Wandsbek bis an die Grenze von Schiffbek erstreckte, ungefähr zwei Züge. Zu jedem Trupp gehörten außerdem ein Radfahrer als Verbindungsmann, ein Sanitäter, zwei Motorradfahrer, Brieftaubenhalter und mehrere kleine Frauengruppen, die speziell im Nachrichtendienst eingesetzt wurden.19

Ein großer Teil dieser Kampfgruppen hatte bereits während der bewaffneten Kämpfe im August in Hamburg anläßlich des Cuno-Streiks die Feuerprobe in Ehren bestanden. Damit nicht genug: Viele Angehörige des Ordnerdienstes, die noch in Betrieben arbeiteten, hatten im Auftrage der Kommunistischen Partei aktiv an der Organisierung proletarischer Hundertschaften mitgewirkt und bemerkenswerte Anfangserfolge erzielt. Ein kommunistischer Maurer zum Beispiel hatte auf den großen Bauplätzen zahlenmäßig starke Hundertschaften organisiert; ein kommunistisches Mitglied des Eisenbahnbetriebsrates hatte eine Eisenbahnerhundertschaft aufgestellt; ein Bäcker hatte Arbeiter der Bäckereigroßbetriebe zu einer Kampfgruppe vereinigt, und nicht zuletzt war es gelungen, auch in dem strategisch wichtigen zentralen Telegrafen- und- Telefonbauamt eine Hundertschaft zu bilden.20 Doch sowohl diese als auch alle anderen Hamburger proletarischen Hundertschaften, hatten sich nicht zu schlagkräftigen Kampfeinheiten entwickelt.21 Die Hauptursache dafür, dass – bei grundsätzlich richtiger politischer Linie – sich nicht nur die Hundertschaften, sondern auch die anderen hauptsächlichen Organisationsformen der Einheitsfront nicht kraftvoll entwickelten, ist darin zu suchen, daß die Hamburger Organisation der KPD, wie fast alle deutschen kommunistischen Parteiorganisationen, in bezug auf den organisatorischen Aufbau noch immer nicht den Sozialdemokratismus überwunden hatte. Die Hamburger KPD-Stadtleitung stützte sich im Herbst 1923 im wesentlichen auf Wohnbezirksgruppen.22 Daß ein derartiger organisatorischer Aufbau die Partei bei der Lösung der bevorstehen den Aufgaben hindern mußte, hatte Walter Ulbricht im Sommer 1923 eindringlich nachgewiesen. Er schrieb damals zu dieser Frage: „Der Abwehrkampf gegen den Faschismus und gegen die wirtschaftliche Verelendung der Arbeiterklasse und der Mittelschichten hat in Verbindung mit der Bildung der proletarischen Einheitsfront gezeigt, daß wesentliche organisatorische Schwächen die Partei bei der Durchführung ihrer politischen Aufgaben hemmen … Die Partei muß fest in den Betrieben verwurzelt sein, und die Betriebszellen müssen das Fundament der Partei im weitesten politischen und organisatorischen Sinne bilden … Der Betrieb, die Produktionsstätte, ist der Ort, wo Massen von Arbeitern täglich gemeinsam fronden müssen und im Kampf um das nackte Leben zusammengeschweißt werden. Unmittelbar saust hier die Peitsche der großindustriellen Diktatur auf die Arbeiter nieder, und es gilt, durch tägliche revolutionierende Arbeit der kommunistischen Betriebszellen den Abwehrwillen und die Empörung der Arbeiter umzumünzen in revolutionäre Kraft, es gilt, das Selbstbewußtsein zu stärken und Kampfpositionen zu erobern. Der Betrieb ist die Quelle der revolutionären Kraft des Proletariats. Besonders die gegenwärtigen im weitesten Ausmaß stattfindenden Lohnkämpfe zeigen die Notwendigkeit der kommunistischen Betriebszellen. Ist die Partei auf aktiven Betriebszellen aufgebaut, so wird sie imstande sein, die Sabotage der reformistischen Gewerkschaftsführer zu brechen, die Teilkämpfe vorwärtszutreiben, zu verbreitern, zusammenzufassen, mit konzentrierter Kraft zu steigern und über den ursprünglichen wirtschaftlichen Rahmen hinauszutreiben.23

Weil sich die Organisatoren der Hundertschaften in Hamburg nicht auf aktive kommunistische Betriebszellen stützen konnten, fehlte der Partei in den Betrieben die Kraft, den politisch desorientierenden Einfluß der rechtssozialistischen Führer auszuschalten. Diese hatten zudem eine „Abwehrorganisation“, die sogenannte Vereinigung „Republik“, gegründet, um die sozialdemokratischen Arbeiter und die Anhänger der SPD vom Eintritt in die proletarischen Hundertschaften abzuhalten. Das Fehlen kommunistischer Betriebszellen war in der Tat die „schwerste Lücke in der Hamburger Kampffront.24

So blieb der Kampfleitung zunächst nur der Ordnerdienst zur Auslösung des bewaffneten Kampfes. Im Gegensatz zu den proletarischen Hundertschaften hatte sich im Ordnerdienst eine intensive Ausbildungs- und Schulungsarbeit entwickelt. „Sonntags“, so heißt es im Bericht eines OD-Oberdistriktleiters, „fanden unter der Leitung Groß-Hamburgs umfangreiche Geländeübungen von je zwei Oberdistrikten statt, zu denen der OD geschlossen an- und abrückte. Das erregte jedesmal großes Aufsehen und machte die Polizei sehr nervös, besonders vom Zeitpunkt des Ausnahmezustandes ab. Da die Übungen geheim vorbereitet waren und die Polizei vermittels des gutfunktionierenden Nachrichtendienstes immer unter Beobachtung stand, gab es keinen einzigen Zwischenfall. Außerdem veranstaltete der OD des Oberdistriktes B wöchentlich abwechselnd je einen Übungsabend und einen theoretischen Gesamtkursus.

Am meisten in Anspruch nahm die praktische Kleinarbeit, die, je zugespitzter die Situation war, desto mehr vom OD geleistet wurde, auch hier wieder ganz besonders nach dem am 26. September verhängten Ausnahmezustand; ständige Bewachung des Parteilokals (es war eine regelrechte Wachstube eingerichtet), Haus- und Hofpropaganda sonntags vormittags und wochentags abends (über die die Polizei ganz besonders wütend war), Vertrieb der verbotenen Hamburger Volkszeitung, Klebearbeit vor allem an den Kasernen und Polizeiwachen, Abreißen gegnerischer Plakate und besonders dann im Oktober das Verfertigen und Plakatieren selbstgemachter Plakate mit den Parolen: „ Arbeiter, bewaffnet euch! Verschafft euch Waffen!25“ Weil der Ordnerdienst sich nicht nur auf die militärisch-technische Ausbildung beschränkte, sondern darüber hinaus durch die Verbindung von legaler und illegaler Parteiarbeit die Zuverlässigkeit jedes einzelnen Mitgliedes erprobte, entwickelte er sich zu einer kampfstarken Formation. Aber es mangelte den Kampftrupps an Waffen. Obgleich die Hamburger Kommunisten sich mit Hilfe von Seeleuten und Hafenarbeitern eine Anzahl Waffen verschafft hatten,26 blieb die Bewaffnung des Ordnerdienstes äußerst unzureichend. So bestand die Bewaffnung des wichtigen Oberdistrikts B „am Vorabend‚ des Aufstandes aus 19 Gewehren und 27 Pistolen, von denen über die Hälfte wegen unsachgemäßer Lagerung usw. unbrauchbar war“27. Das bedeutete, daß man jeder Kampfgruppe höchstens eine gebrauchsfertige Waffe geben konnte.

Wollten die Arbeiter den Klassenfeind im bewaffneten Kampf schlagen, so mußten sie zunächst der Bourgeoisie die dazu notwendigen Waffen entreißen. Von dieser Erkenntnis ausgehend, entwickelte die Oberleitung ihren taktischen Plan. Der Aufstand beginne, gab sie bekannt, durch plötzliches Losschlagen der bewaffneten Kampfgruppen in den Arbeitervierteln der Stadt, wobei in erster Linie die Waffenlager zu besetzen seien. Der erste Stoß sei also ein Handstreich gegen die Polizeiwachen und Kasernen in den Vororten, und es komme alles darauf an, daß der Ordnerdienst durch überraschenden Angriff möglichst große Anfangserfolge erziele. Neben der Polizei sollten auch die Faschisten entwaffnet werden. Das werde den Massen das Signal zum Losschlagen auf breitester Grundlage geben und einen dichtgeschlossenen Ring eroberter Vororte und Außenstadtteile nördlich der Elbe um Hamburg legen.28

Nachdem an der Peripherie Hamburgs im Nordwesten, Norden, Nordosten und Osten die Herrschaft gesichert sei, beginne die‚ „gleichzeitige Zusammenziehung der bereits bewaffneten Arbeiterabteilungen, die durch Massendemonstrationen aus den Vororten nach der Innenstadt zu decken sind, und Zurückdrängung des Gegners (Polizei und Faschisten des Stadtzentrums) nach Süden (an den Fluß), dessen Brückenübergänge schon vorher von den Aufständischen zu besetzen sind, und hier endgültige Entwaffnung des Gegners“29 Aber noch bevor der allgemeine Marsch nach der Innenstadt einsetze, müßten bewaffnete Kräfte der Vorstädte das Post- und Telegrafenamt, die wichtigsten Bahnhöfe, den Flugplatz und andere wichtige Objekte besetzen. Aufgabe der Parteiorganisationen von Harburg, Wilhelmsburg, Utersen und Stade sei es, im Süden, wo Elbe und Bille eine breite natürliche Grenze bilden, den Schiffsverkehr zu sperren. Außerdem müsse dem Gegner das Heranziehen auswärtiger Verstärkungen unmöglich gemacht werden; das heißt, der anrückende feindliche Entsatz solle auf den Hauptstraßen, die für einen solchen Nachschub in Frage kämen, in den Hinterhalt gelockt werden. Die dementsprechende Sperrung der Wege im Umkreis von 25 Kilometern und der Angriff aus dem Hinterhalt sei die Aufgabe der nächstliegenden Arbeitersiedlungen.30 Die weiter entfernten Gebiete der Bezirke Wasserkante, Nordwest und Mecklenburg würden erst im Verlauf des ersten Kampftages in den Kampf einbezogen werden. Dieser Plan entsprach voll und ganz den Hinweisen, die Marx und Engels zur Taktik des Aufstandes gegeben hatten und die von Lenin weiterentwickelt worden waren. „Der bewaffnete Aufstand ist“, lehrte Lenin, „eine besondere Form des politischen Kampfes, die besonderen Gesetzen unterworfen ist, und diese müssen gründlich durchdacht werden. Außerordentlich plastisch hat Karl Marx diese Wahrheit ausgedrückt, als er schrieb, daß der bewaffnete ‚Aufstand genau wie der Krieg eine Kunst‘ ist. Die wichtigsten Regeln dieser Kunst sind nach Marx:

1. Nie mit dem Aufstand spielen, hat man ihn aber einmal begonnen, so muß man genau wissen, daß man bis zu Ende gehen muß.

2. Am entscheidenden Ort und im entscheidenden Augenblick muß ein großes Kräfteübergewicht konzentriert werden, denn sonst wird der Feind, der besser ausgebildet und organisiert ist, die Aufständischen vernichten.

3. Sobald der Aufstand begonnen hat, gilt es, mit der größten Entschiedenheit zu handeln und unter allen Umständen und unbedingt die Offensive zu ergreifen. ,Die Defensive ist der Tod der bewaffneten Erhebung.‘

4. Man muß bestrebt sein, den Feind zu überrumpeln und den Augenblick abzupassen, wo seine Truppen zerstreut sind.

5. Es gilt, täglich (handelt es sich um eine Stadt, so können wir sagen stündlich), wenn auch kleine Erfolge zu erreichen, und dadurch um jeden Preis das ,moralische Obergewicht‘ festzuhalten.

Marx hat die Lehren aus allen Revolutionen über den bewaffneten Aufstand mit ,den Worten Dantons, des größten bisher bekannten Meisters revolutionärer Taktik‘, so zusammengefaßt: ,De l‘audace, de l’audace, encore de l‘audace!‘“31

Kühnheit, Kühnheit und noch einmal Kühnheit, das war auch das Wesen des Aufstandsplans der Hamburger Kommunisten. In diesem Sinne erhielten die Oberdistriktleiter des Ordnerdienstes den Auftrag, am 23. Oktober 1923, 5 Uhr früh, den überraschenden Vorstoß auf die Polizeiwachen und Kasernen durchzuführen. Die militärische Leitung rechnete damit, daß der Kampf um die Wachen und Kasernen, soweit er nicht im ersten Anlauf glückt, bis zum Nachmittag des 23. Oktober zu- gunsten der bewaffneten Arbeiter entschieden sein werde; sie befahl deshalb, erst am Nachmittag des 23. Oktober konzentrisch gegen die eigentliche Innenstadt vorzudringen. Die Durchführung dieser Aufgaben blieb den Oberdistriktleitern überlassen.32 Jedoch sollten sie vom ersten Augenblick des Losschlagens an ihre Aktionen mit denen der Stadtparteileitung koordinieren, die die Arbeitermassen in diesem Moment zu mobilisieren und für eine aktive Beteiligung am bewaffneten Aufstand zu gewinnen hatte.33 Kaum war der Befehlsempfang beendet, eilten die militärischen Leiter in ihre Oberdistrikte um die Kampfgruppen zu alarmieren.

Während dieser Zeit drängten sich auf den Hauptstraßen noch immer die hungernden Werktätigen. Wo die Massen sich sammelten, trieben bewaffnete Polizisten sie auseinander. Aber die Hungernden kapitulierten nicht. Sie wollten sich einer Ordnung nicht mehr fügen, in der nur das eine gewiß war, daß es immer schlechter wird. „So kann es nicht länger weitergehen“, war jetzt allgemeine Überzeugung. Viele Werktätige sprachen schon laut da von, daß jetzt die Revolution komme.34 Ein großer Teil der Mitglieder der Kommunistischen Partei, die nicht dem Ordnerdienst angehörten, bestärkten die Massen in ihrem Willen zum Widerstand. Bald hier, bald dort auftretend, sammelten sie die Hungernden stets an den Straßenkreuzungen, wo es die Polizei am wenigsten erwartete. Die Polizisten hasteten hin und her, aber sie konnten die Hungernden nicht vertreiben. Überall sammelten sich die Massen erneut auf den Straßen, und zwar viel lebhafter als im August, als sie den Rücktritt der Cuno-Regierung gefordert hatten: Hier und da, so heißt es im Bericht eines Arbeiters, flüsterte man sich ins Ohr: „Jetzt wird losgeschlagen!“35 Aber wann und wo, wußte noch niemand zu sagen.

Zur gleichen Zeit fanden in vielen Stadtteilen KPD-Versammlungen statt; die wichtigste tagte im Klub- und Ballhaus am Grünen Deich. Hier sprach auch Ernst Thälmann. Die Arbeiter, erklärte er, seien auf der Straße schon zum aktiven Widerstand übergegangen, jetzt werde auch die Kommunistische Partei losschlagen, um zu verwirklichen, was in ihrem Programm stehe.36

In der Nacht vom 22. zum 23. Oktober verteilte die Hamburger Parteiorganisation einen Aufruf des Reichsbetriebsräteausschusses, in dem die Arbeiterklasse ganz Deutschlands zum Generalstreik, zum Aufstand gegen die Offensive der Reaktion und gegen die Militärdiktatur aufgefordert wurde. 37 In diesem Aufruf wurde hervorgehoben, „daß jede Verzögerung dem Tode gleichkommt und es unbedingt notwendig ist, den Kampf gleichzeitig im ganzen Lande zu beginnen, weil der isolierte Kampf der Arbeiter in Mitteldeutschland zur Niederlage führen kann. Es wird nicht die Wiederholung der Novemberrevolution 1918 sein. Die entscheidenste Stunde ist gekommen. Eins von beiden: Entweder rettet das werktätige Volk Mitteldeutschland, verwandelt Deutschland in eine Arbeiter- und Bauernrepublik, welche ein Bündnis mit der Sowjetunion schließt, oder es kommt eine ungeheure Not.“38 Mittlerweile traten die Parteiorganisationen in den Außenbezirken in Aktion. Am späten Nachmittag hatte die militärische Leitung des KPD-Bezirks Wasserkante den Befehl zum Beginn der ersten bewaffneten Sperraktionen gegeben. Das Mitglied der militärischen Leitung Philipp Dengel beauftragte Kommissare, die Sperrung der Verbindungswege einzuleiten. Dengel erklärte: „Diese Nacht fängt es in Deutschland an zu brennen. Die Ortsgruppen sind verpflichtet, sich in den Besitz des Ortes zu setzen. Da militärische Anmärsche vermutet werden, sind die Zugangsstraßen durch Aufreißen der Straßen und Fällen von Bäumen zu sperren. Die zu erwartenden Militärzüge sind durch Aufreißen der Eisenbahnschienen aufzuhalten.“39

Einer der Kommissare der militärischen Leitung hatte gegen 18 Uhr dem Vorsitzenden der KPD-Ortsgruppe Ahrensburg (Vorort von Hamburg) die Anweisung überbracht, sofort mit bewaffneten Aktionen zu beginnen. Um 21 Uhr organisierte diese Ortsgruppe in einer Tannenschonung seitlich der Hamburger Straße unweit des Walddörferbahnhofs eine geheime Versammlung, die durch besondere Sicherheitsposten vor allen Überraschungen geschützt wurde. Der Vorsitzende informierte die Versammlungsteilnehmer über den bevorstehen den Aufstand und stellte dann folgende Trupps zusammen: einen Eisenbahntrupp zur Zerstörung der Schienenstrecke, einen Baumfälltrupp zur Sperrung der Straßen, einen Telefon- und Telegrafentrupp zur Unterbrechung der Leitungen und einen Entwaffnungstrupp zur Beschaffung von Waffen. Auf dem Bahnhof, auf der Hochbahnbrücke und auf der Hamburger Straße wurden Sonderposten aufgestellt. In der Nähe des Versammlungsortes verblieb eine kleine Reserve.40

Gegen 22 Uhr marschierten die Trupps zu ihren Einsatzplätzen. Der etwa 13 Mann starke Bahntrupp erreichte die Bahnlinie Hamburg-Lübeck an der Wärterbude 77 unweit von Ahrensburg (in Richtung Hamburg). Die Angehörigen des Trupps erklärten dem Bahnwärter, worum es ging, und nahmen sich aus der Wärterbude das nötige Werkzeug. Kaum war der Personenzug durch gefahren, der gegen 22 Uhr aus Hamburg kam, da unterbrachen sie die Bahnstrecke in beiden Richtungen. Den Bahnwärter, der sie immer wieder von ihrem Vorhaben abhalten wollte, jagten sie in seine Wärterbude zurück, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Doch das sollte den Revolutionären teuer zu stehen kommen. Der Bahnwärter alarmierte über sein Streckentelefon die Bahnhöfe Ahrensburg und Alt-Rahlstedt. Kurz vor 23 Uhr erschienen auf Grund der Alarmrufe des Bahnwärters ein Oberlandjäger und zwei Landjäger. Aber anstatt sie sofort zu verhaften, begnügten sich die Arbeiter damit, sie zu verhöhnen. Die Übermacht der Arbeiter erkennend, wandten sich die Gendarmen schnell zur Flucht. Ein paar Kugeln, die ihnen die Arbeiter hinterherschossen, erreichten nicht ihr Ziel. Der Oberlandjäger ersuchte bald darauf die Hamburger Polizei um Hilfe. Die Polizeizentrale setzte sofort ein Schnellkommando in Marsch. Unterdessen hatten die übrigen Ahrensburger Arbeitertrupps rege gearbeitet. Der Baumfälltrupp sägte an der Landstraße Ahrensburg-Hamburg einige große Bäume um und sperrte damit die Straße. Ein anderer Trupp durchsuchte die Wohnungen bürgerlicher Elemente nach Waffen. Dort, wo er auf Widerstand stieß, wurde geschossen. Einen Grundstückbesitzer, der als eifriger Jäger bekannt war, zwangen die Arbeiter nach kurzem Feuergefecht zur Herausgabe der Waffen.41 Inzwischen vereinigten sich die alarmierte bürgerliche Ortswehr und die Mitglieder der deutschnationalen Bismarck-Jugend mit den Landjägern und dem inzwischen eingetroffenen Kommando der Hamburger Polizei und drangen vom Walddörferbahnhof aus gegen die bewaffneten Arbeitertrupps an der Hamburger Straße vor. Ein längeres Feuergefecht entspann sich, flaute aber allmählich ab. Die Arbeiter zerstreuten sich und kehrten in ihre Wohnungen zurück, wo einzelne schon im Laufe der Nacht festgenommen wurden. So schnell rächte sich sorgloses Verhalten.

In Bargteheide hielt der Vertreter der militärischen Leitung gegen 20 Uhr eine kurze Versammlung ab, zu der 30 bis 50 Kommunisten erschienen waren. Die Geldentwertung, sagte der Kommissar, verursache eine solche Notlage, daß ein sofortiges Handeln gegen die unfähige Regierung notwendig sei. Eile sei geboten, denn die Faschisten planten auch einen Schlag, dem man zuvorkommen müsse. Es gelte die Räterepublik zu errichten und bessere Zeiten herbeizuführen. Man solle auch hier einen Eisenbahntrupp, einen Baumfälltrupp und einen Entwaffnungstrupp bilden und gemeinsam mit Hamburg losschlagen. Die Versammelten handelten, wie es der Kommissar ihnen vorgeschlagen hatte. Gegen 2 Uhr früh traten die Trupps in Aktion. Der Entwaffnungstrupp ging energisch ans Werk. Er entwaffnete, angefangen vom Ortspolizisten und dem Amtsvorsteher bis zum Nachtwächter, eine ganze Reihe bürgerlicher Elemente. Der Baumfälltrupp legte bei Delingsdorf auf der Chaussee von Hamburg nach Lübeck zwei Bäume um. Nur der Bahntrupp verhielt sich unentschlossen. Anstatt den Schienenstrang zu unterbrechen, verlor er sich in unfruchtbaren Diskussionen über Zweck- oder Unzweckmäßigkeit des Schienenaufreißens und ließ schließlich sowohl den Schienenstrang als auch die Telefon- und Telegrafenverbindung unversehrt. Er beteiligte sich lediglich an den Entwaffnungsaktionen. Aber die Aktivität bei der Entwaffnung der Bourgeoisie genügte noch lange nicht, um die gestellten Aufgaben erfolgreich zu lösen. Weil es offenbar der Mehrzahl der Kommunisten von Bargteheide an revolutionärer Standhaftigkeit und Elastizität mangelte, lösten bei ihnen schlechte Nachrichten aus Ahrensburg Verwirrung, Flucht und Kapitulation aus.42

Im Vorort Alt-Rahlstedt nahmen die Dinge einen‚ noch entmutigenderen Verlauf. Der Stoßtrupp, der nach der Geheimversammlung der KPD auf nächtliche Patrouille ging, wurde verhaftet und ins Spritzenhaus gesperrt.43 Der Versuch, die Verbindung zwischen Hamburg und Lübeck zu sperren, endete also mit einem Mißerfolg. Die wenigen angelegten Sperren konnten von den Kräften der Bourgeoisie bald beseitigt werden. Sorglosigkeit und mangelnde revolutionäre Entschlossenheit hatten ermutigende Anfangserfolge zunichte gemacht. Nur in der preußischen Gemeinde Hummelsbüttel nahm die Sperraktion einen anderen Verlauf. Wie in den vorhergenannten Orten, hatten sich auch hier die Mitglieder der KPD versammelt. Sie berieten nicht nur die unmittelbar bevorstehenden Aktionen, sondern auch Maßnahmen, die nach dem Sturz der bürgerlichen Regierung notwendig sein würden. An Hand eines Fragebogens erörterten die Versammelten, „wieviel Brot und sonstige Lebensmittel im Falle der Übernahme der Regierung durch die Kommunisten im Orte zu beschaffen wären.“44 Dann sperrten sie Straßen ab, durchsuchten Fahrzeuge nach Waffen und stellten bei den Bäckern den Brotbestand fest. Bald darauf traf aus Hamburg für die Hummelsbütteler Mitglieder des Ordnerdienstes der Befehl ein, am Sturm auf die Polizeiwache teilzunehmen; sie fuhren darauf nach Langenhorn.

Während dieser Zeit hatte sich in der Hamburger Kampfleitung ein ernsthafter Zwischenfall ereignet. Gegen Mitternacht, so erinnert sich der damalige Sekretär der Hamburger KPD-Stadtleitung, erschien das Mitglied der militärischen Leitung Hommes, das später zur Sozialdemokratie überlief, mit einem Extrablatt in der Kampfleitung. In Chemnitz, soll er leichenblaß gerufen haben, sei kein Generalstreik beschlossen worden, man müsse sofort abbremsen. Aber Revolutionäre wie Ernst Thälmann sind keine schreckhaften Menschen. Es gebe, erklärte Thälmann, kein Zurück, man müsse trotz des jämmerlichen Chemnitzer Beschlusses mit dem bewaffneten Vorstoß in Hamburg das Signal zum allgemeinen bewaffneten Aufstand geben. Doch Hommes fürchtete offensichtlich die Revolution. Als radikalisierter Kleinbürger, den die Wogen der revolutionären Nachkriegszeit zufällig in die Führung der Hamburger Parteiorganisation gespült hatten, setzte er alles daran, die begonnene bewaffnete Aktion sofort abzuwürgen.

Er erzwang eine nochmalige Abstimmung; doch die übergroße Mehrheit ging mit Ernst Thälmann. 45 Daran änderte auch das spätere Eintreffen Remmeles, des Kuriers der Zentrale, nichts mehr, der, wie er es bereits im KPD-Unterbezirk Kiel getan hatte, die Direktive „Nicht losschlagen“ durchsetzen wollte. Ernst Thälmann ließ sich aber nicht mehr von der Verwirklichung des bereits eingeleiteten bewaffneten Aufstandes abdrängen.46

Unterdessen erwuchsen dem Plan der Hamburger Revolutionäre noch von anderer Seite gewisse Gefahren. Im Laufe der Nacht mehrten sich bei der Polizei Nachrichten. Die auf die bevorstehende Aktion der Arbeiter hindeuteten. Außer den Alarmrufen aus Alt-Rahlstedt erhielt sie auch aus Hamburg ein direktes Signal.

Kurz vor 24 Uhr meldete sich auf einer Polizeiwache des Stadtteils St. Georg ein Mann, der laut Polizeibericht seinen Namen verschwieg. Er sei, erklärte er, soeben von Arbeitern geweckt und aufgefordert worden, sofort seine Gruppe zusammenzuholen und zu Zimmermann zu kommen. Da er aber nicht wisse, wer Zimmermann sei, mache er hiermit Meldung. „Die Wache“ , heißt es in der Denkschrift der Polizei, „brachte diese Meldung mit Recht mit den von allen Seiten als nahe bevorstehend anzusehenden Aufruhrhandlungen in Verbindung, und als solche wurde sie auch an die Kommandostelle weitergegeben. Die für die Nacht vorgesehenen Abwehrmaßnahmen konnten jedoch nicht mehr erhöht werden.“47 Ein zu wertvolles Eingeständnis! Die Massenaktionen der vorhergegangenen Tage und die dadurch erzwungene ständige Alarmbereitschaft hatten also die mehr als 5000 Vollzugsbeamten48 der Hamburger Ordnungspolizei so sehr ermüdet, daß die Polizeizentrale nicht einmal in der Lage war, den Aufstand im Keime zu ersticken, nachdem er verraten worden war. Das war ein glänzender Erfolg der Ermüdungstaktik, die die Hamburger Kommunisten mit Ernst Thälmann an der Spitze in den Tagen vor dem 22. Oktober gegenüber der Polizei angewandt hatten. Weil die Mehrzahl der Hamburger Kommunisten und das Gros ihrer Führer die Lösung der bevorstehenden komplizierten Aufgabe auf revolutionäre Weise vorbereitet hatten, vermochte selbst ein offener Verrat keinen schwerwiegenden Schaden mehr anzurichten. Die Polizeizentrale sah sich außerstande, die Masse ihrer Beamten, die man am 22. Oktober um 18 Uhr bis zum 23. Oktober, 6 Uhr, wegen Übermüdung nach Hause geschickt hatte, plötzlich für erhöhte Abwehrmaßnahmen einzusetzen. Nur auf den Polizeiwachen, wo man die Alarmbereitschaft aufrechterhalten hatte, ergab sich auf Grund der erwähnten Meldungen eine wichtige Veränderung. Der größte Teil der Wachen stellte in der Nacht vom 22. zum 23. Oktober zusätzliche Horch- und Alarmposten vor die Gebäude.49 Nicht nur die Hamburger, sondern auch die Bremer Polizei hatte Nachrichten erhalten, die auf einen Putsch hindeuteten, der am 23. beziehungsweise am 24. Oktober in Norddeutschland beginnen solle.

So traf man in Bremen schon am 22. Oktober alle Vorbereitungen für die Verhaftung der führenden Kommunisten. Da man aber wußte, daß die Aktionen der Arbeiter in Bremen nur beginnen sollten, wenn die Hamburger am 23. Oktober das Signal dazu gäben, wurden die Verhaftungen zunächst noch nicht vorgenommen. Die Polizei wollte abwarten, ob die Hamburger auch tatsächlich am 23. Oktober losschlügen.50

Die Hüter der kapitalistischen Ordnung waren also wirklich gut informiert. Mittlerweile hatten die Oberdistriktleiter des Ordnerdienstes ihre wichtigsten Funktionäre zusammengeholt, um die Lösung der ihnen übertragenen Aufgaben zu beraten. So hatten sich zum Beispiel im Oberdistrikt B die wichtigsten OD-Funktionäre gegen 23 Uhr in einer Wohnung versammelt. Zu den Funktionären der Distrikte Uhlenhorst, Winterhude und Bramfeld, die noch nicht erschienen waren, wurden Kuriere geschickt. Die OD-Gruppen dieser Distrikte sollten sofort alarmiert und ihre Funktionäre aufgefordert werden, zur nächsten Sitzung um 1 Uhr früh zu erscheinen. Den Anwesenden erläuterte der Oberdistriktleiter den taktischen Plan. Das Wichtigste sei, stellte man fest, schleunigst im gesamten Ordnerdienst den „Gruppenalarm“ auszulösen, demzufolge die Mitglieder jeder Gruppe sich, mit etwas Mundvorrat und Verbandsstoff versehen, in Wohnungen zuverlässiger Genossen versammeln und weitere Befehle abwarten sollten. Licht dürfe nicht gemacht werden, damit die Polizei, die durch die Straßen patrouilliere, keinerlei Verdacht schöpfe. Mit dieser Weisung verließen die Unterführer die Beratung. Nun diskutierte der Oberdistriktleiter entgegen der Anweisung der militärischen Leitung mit den Zugführern den taktischen Plan. Das Ergebnis war, daß sie die militärische Leitung ersuchten, den bisherigen Plan abzuändern. Den 19 Gewehren und 27 Pistolen des Oberdistrikts stünden, so erklärten sie, 17 Polizeiwachen und die Wandsbeker Polizeikaserne gegenüber. Bei diesem Kräfteverhältnis sei es ratsamer, den ersten Hauptstoß gegen die Kaserne zu richten. Außerdem halte man es für richtiger, nicht alle 17 Polizeiwachen auf einmal zu überrennen, sondern sich lediglich auf die acht Wachen zu konzentrieren, die von kasernierter Ordnungspolizei besetzt seien, „und auch diese nicht unbedingt zu nehmen, sondern lediglich in Schach zu halten“51 Selbstverständlich, fügten sie beschwichtigend hinzu, solle es nicht verwehrt sein, sich durch einen schnellen Handstreich dieser Wachen zu bemächtigen; nur möchte man vor allem die Waffen gegen die Kaserne einsetzen. Die militärische Leitung wies diesen Versuch, den Plan des allgemeinen Handstreichs zur Eroberung der Wachen zu torpedieren, eindeutig und bestimmt zurück.

Gegen 1 Uhr versammelten sich, wie vorgesehen, die OD-Funktionäre des ganzen Oberdistrikts B. Gegen jede Wache, befahl der Oberdistriktleiter nunmehr, sei ein Stoßtrupp von zwei bis drei Gruppen einzusetzen. Gegen die Wachen in der von Essenstraße und am Mundsburger Tor werde wegen der dortigen besonders starken Besatzung die doppelte Anzahl von Gruppen eingesetzt. Jeder Stoßtrupp erhalte mindestens zwei Pistolen oder ein Gewehr und eine Pistole. Da die militärische Leitung das Hauptgewicht darauf lege, durch Überrumpelung der Polizeiwachen in Arbeitervierteln rasch einen Anfangserfolg mit möglichst großer politischer Auswirkung zu erzielen, werde die Wandsbeker Kaserne vorläufig nicht überrumpelt; denn die vorhandenen Kräfte reichten ohnehin nicht einmal, einen erfolgversprechenden Angriff auf alle Wachen zu unternehmen. Die Wandsbeker Kaserne sei deshalb im Anschluß an den Sturm auf die Wachen durch einen planmäßigen Angriff zu erobern.52 Jeder Stoßtrupp müsse 5 Minuten vor 5 Uhr auf dem jeweiligen Stellplatz stehen und Punkt 5 Uhr die Wache stürmen. Die Beamten seien sofort zu entwaffnen und gefangenzusetzen und alle Räume nach Munition und Waffen zu durchsuchen. Darauf verbliebe nur noch ein Posten zur Bewachung der Gefangenen in der Wache; alle übrigen Stoßtruppler sollten sich dann zu weiteren Aktionen auf dem unbebauten Gelände des Pinelsweges versammeln.

Zugleich aber seien die wichtigsten Alsterübergänge und Ausfallstraßen zu sperren. Nach dieser Befehlsausgabe nahmen die Stoßtruppführer genaue Uhrzeit und eilten wieder in die Alarmquartiere ihrer Gruppen. Abgesehen von der schädlichen Diskussion über den Plan, handelte man in den anderen OD-Oberdistrikten ähnlich.53

So wachten in den ersten Stunden des 23. Oktober in vielen Hamburger Arbeiterwohnungen Hunderte von OD-Mitgliedern. In revolutionärer Kampfstimmung warteten sie auf die Stunde, in der sie das Signal zum bewaffneten Aufstand geben wollten, der Deutschland für immer von den monopolistischen Ausbeutern und Kriegstreibern befreien sollte.


1Siehe „Hamburger Volkszeitung“ Nr. 187 vom 24. Oktober 1924.

2Siehe „Hamburger Volkszeitung“ Nr. 249 vom 23. Oktober 1928.

3Siehe „Hamburgischer Correspondent“ Nr. 494 vom 23. Oktober 1923.

4Siehe „Hamburgischer Correspondent“ Nr. 105 vom 2. März 1924.

5Siehe ebenda und Nr. 494 vorn 23. Oktober 1923.

6„Hamburgischer Correspondent“ Nr. 494 vorn 23. Oktober 1923.

7Ebenda.

8Siehe ebenda.

9IML, Archiv, Nr. 12/42, Denkschrift, S. 14.

10Siehe „Hamburg im Aufstand. Der Rote Oktober vor dem Klassengericht“, S. 29 und IML, Archiv, Nr. 12/42, Bl. 193.

11Siehe „Hamburgischer Correspondent“ Nr. 573 vom 10. Dezember 1923.

12Siehe „Hamburger Echo“ Nr. 290 vom 20. und Nr. 293 vom 23. Oktober 1923.

13Siehe „Hamburgischer Correspondent“ Nr. 494 vom 23., Nr. 504 vom 28. und Nr. 507 vom 30. Oktober 1923. Ferner „Hamburger Volkszeitung“ Nr. 186 vom 23. Oktober 1924.

14„Hamburgischer Correspondent“ Nr. 493 vom 22. Oktober 1923.

15Siehe „Hamburger Volkszeitung“ Nr. 186 vom 23. Oktober 1924.

16Nach mündlicher Auskunft des Aufstandsteilnehmers A. Sch., der an dieser und allen anderen entscheidenden Sitzungen der Oberleitung teilnahm.

17W. I. Lenin, „Referat über die Taktik der KPR“; Werke, 4. Ausgabe, Bd. 32, S. 455/456, russ.

18Nach mündlicher Auskunft des Aufstandsteilnehmers A. Sch. Siehe auch „Hamburger Volkszeitung“ Nr. 186 vom 23. Oktober 1924.

19Siehe „Oktober“, 1926, Nr. 2, S. 35.

20Siehe ebenda, S. 34.

21Siehe ebenda.

22Siehe Ernst Thälmann, „Die Lehren des Hamburger Aufstandes“; Reden und Aufsätze zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 262.

23„Die Internationale“, 6. Jahrgang, Heft 46, S. 462/463.

24Ernst Thälmann, „Die Lehren des Hamburger Aufstandes“; Reden und Aufsätze zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 262.

25„Oktober“, 1926, Nr. 2, S. 35.

26Siehe Walter Ulbricht. „Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“, Bd. I , S. 135/136.

27„Oktober“, 1926, Nr. 2, S. 35.

28Siehe ebenda, S. 36 und A. Neuberg, „Der bewaffnete Aufstand“, Zürich 1928, S. 77 und Hartenstein, „Der Kampfeinsatz der Schutzpolizei bei inneren Unruhen“, S. 41/42.

29A. Neuberg, „Der bewaffnete Aufstand“, S. 77.

30Siehe ebenda. Ferner „Die Kommunistische Internationale“, Fünfter Jahrgang, Nr. 31-.32, S. 161.

31I. Lenin, „Ratschläge eines Außenstehenden“; Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. II, Dietz Verlag, Berlin 1955, S. 148/149.

32Siehe „Oktober“, 1926, Nr. 2, S. 36.

33Nach mündlicher Auskunft des Aufstandsteilnehmers J. v. B.

34Siehe „Hamburger Volkszeitung“ Nr. 186 vom 23. Oktober 1924.

35Siehe A. Neuberg, „Der bewaffnete Aufstand“, S. 73.

36Nach mündlichen Auskünften der Aufstandsteilnehmer J. R., H. G., H.K., F.D.

37Siehe Walter Ulbricht, „Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“, Bd. I, S. 139.

38Ebenda.

39IML, Archiv, Nr. 12/42, Denkschrift, S. 24.

40Siehe ebenda, S. 19/20.

41Siehe ebenda, S. 20-22.

42Siehe ebenda, S. 22/23.

43Siehe ebenda , S. 18.

44Ebenda , S. 36.

45Nach mündlicher Auskunft des Aufstandsteilnehmers J. v . B.

46Nach mündlicher Auskunft des Aufstandsteilnehmers A. Sch.

47IML, Archiv, Nr. 12/42, Denkschrift, S. 16.

48Im Entwurf des hamburgischen Haushaltsplans für das Rechnungsjahr 1923 wurden Ausgaben für 5100 Vollzugsbeamte der Ordnungspolizei veranschlagt.

49Siehe IML, Archiv, Nr. 12/42, Denkschrift, S. 26-30.

50Siehe IML, Archiv, Nr. 12/42, Bl. 88.

51„Oktober“, 1926, Nr. 2, S. 37.

52Siehe ebenda, S. 38. Zu dieser Abänderung holte man sich die Zustimmung der Kampfleitung.

53Nach mündlichen Auskünften der Aufstandsteilnehmer J. R., W. v., d. R., A. B., A. G.