Lenin: Das Militärprogramm der proletarischen Revolution

Das Militärprogramm der proletarischen Revolution (1916)

In Holland, Skandinavien, in der Schweiz hört man aus der Mitte der revolutionären Sozialdemokraten, die gegen die Lüge der Sozialchauvinisten von der „Landesverteidigung“ in diesem imperialistischen Kriege kämpfen, Stimmen, man solle den alten Punkt des sozialdemokratischen Minimalprogramms: „Miliz“ oder „Volksbewaffnung“ durch einen neuen ersetzen: „Entwaffnung“. Die „Jugend-Internationale“ eröffnete die Diskussion über diese Frage und brachte in Nr. 3 einen redaktionellen Artikel für die Entwaffnung. In den neuesten Thesen des Genossen R. Grimm ist leider auch der Entwaffnungsidee eine Konzession gemacht worden. In den Revuen „Neues Leben“ und „Vorbote“ ist die Diskussion eröffnet. Wir wollen die Argumente der Entwaffnungsanhänger untersuchen.

I

Das grundlegende Argument besteht darin, die Forderung der Entwaffnung sei der klarste, entschiedenste, konsequenteste Ausdruck des Kampfes gegen jeden Militarismus und gegen jeden Krieg.

In diesem grundlegenden Argument besteht eben der Grundirrtum der Entwaffnungsanhänger. Die Sozialisten können nicht gegen jeden Krieg sein, ohne aufzuhören, Sozialisten zu sein.

Erstens waren die Sozialisten niemals und können niemals Gegner revolutionärer Kriege sein. Die Bourgeoisie der „großen“ imperialistischen Mächte ist durch und durch reaktionär geworden, und wir erkennen den Krieg, den diese Bourgeoisie jetzt führt, für einen reaktionären, sklavenhalterischen, verbrecherischen Krieg an. Nun, wie steht es aber mit einem Kriege gegen diese Bourgeoisie? Zum Beispiel mit einem Kriege der von dieser Bourgeoisie unterdrückten, von ihr abhängigen oder kolonialen Völker für ihre Befreiung? In den „Leitsätzen“ der Gruppe „Internationale“ lesen wir in Paragraph 5: „In der Ära dieses entfesselten Imperialismus kann es keine nationalen Kriege mehr geben.“ Das ist offenbar unrichtig.

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts, dieses Jahrhunderts des „entfesselten Imperialismus“, ist voll von Kolonialkriegen. Aber das, was wir Europäer, imperialistische Unterdrücker der Mehrzahl der Völker der Welt, mit dem uns eigentümlichen niederträchtigen europäischen Chauvinismus „Kolonialkriege“ nennen, das sind oft nationale Kriege oder nationale Aufstände von seiten dieser unterdrückten Völker. Eine der grundlegendsten Eigenschaften des Imperialismus besteht eben darin, daß er die Entwicklung des Kapitalismus in den rückständigsten Ländern beschleunigt und dadurch den Kampf gegen die nationale Unterdrückung ausbreitet und verschärft. Das ist Tatsache. Und daraus folgt unvermeidlich, daß der Imperialismus nationale Kriege öfters erzeugen muß. Junius, der in seiner Broschüre die genannten „Leitsätze“ verteidigt, sagt, in der imperialistischen Epoche führe jeder nationale Krieg gegen eine von den imperialistischen Großmächten zum Eingreifen einer andern, mit der ersten konkurrierenden, ebenfalls imperialistischen Großmacht, und dadurch werde jeder nationale Krieg in einen imperialistischen verwandelt. Dieses Argument ist aber auch unrichtig. Es kann so sein, es ist aber nicht immer so. Mehrere Kolonialkriege in den Jahren 1900 bis 1914 gingen nicht diesen Weg. Und es wäre einfach lächerlich, wenn wir erklärten, daß z.B. nach dem jetzigen Krieg, wenn er mit der äußersten Erschöpfung der kriegführenden Länder endigt, es „keinen“ nationalen, fortschrittlichen, revolutionären Krieg meinetwegen seitens Chinas im Bunde mit Indien, Persien, Siam usw. gegen die Großmächte geben „kann“.

Die Verneinung jeder Möglichkeit nationaler Kriege unter dem Imperialismus ist theoretisch unrichtig, historisch offenkundig falsch, praktisch gleicht sie dem europäischen Chauvinismus: Wir, die wir zu den Nationen gehören, die Hunderte Millionen Menschen in Europa, Afrika, Asien usw. unterdrücken, wir sollen den unterdrückten Völkern erklären, ihr Krieg gegen „unsere“ Nationen sei „unmöglich“!

Zweitens. Bürgerkriege sind auch Kriege. Wer den Klassenkampf anerkennt, der kann nicht umhin, auch Bürgerkriege anzuerkennen, die in jeder Klassengesellschaft eine natürliche, unter gewissen Umständen unvermeidliche Weiterführung, Entwicklung und Verschärfung des Klassenkampfes darstellen. Alle großen Revolutionen bestätigen das. Bürgerkriege zu verneinen oder zu vergessen, hieße in den äußersten Opportunismus verfallen und auf die sozialistische Revolution verzichten.

Drittens schließt der in einem Lande siegreiche Sozialismus keineswegs mit einem Male alle Kriege überhaupt aus. Im Gegenteil, er setzt solche voraus. Die Entwicklung des Kapitalismus geht höchst ungleichmäßig in den verschiedenen Ländern vor sich. Das kann nicht anders sein bei der Warenproduktion. Daraus die unvermeidliche Schlußfolgerung: Der Sozialismus kann nicht gleichzeitig in allen Ländern Siegen. Er wird zuerst in einem oder einigen Ländern siegen, andere werden für eine gewisse Zeit bürgerlich oder vorbürgerlich bleiben. Das muß nicht nur Reibungen, sondern auch direktes Streben der Bourgeoisie anderer Länder erzeugen, das siegreiche Proletariat des sozialistischen Staates zu zerschmettern. In solchen Fällen wäre ein Krieg unsererseits legitim und gerecht, es wäre ein Krieg für den Sozialismus, für die Befreiung anderer Völker von der Bourgeoisie. Engels hatte vollständig recht, als er in seinem Briefe an Kautsky vom 12. September 1882 ausdrücklich die Möglichkeit von „Verteidigungskriegen“ des Sozialismus, der schon gesiegt hat, anerkannte. Er meinte nämlich die Verteidigung des siegreichen Proletariats gegen die Bourgeoisie anderer Länder.

Erst nachdem wir die Bourgeoisie in der ganzen Welt, und nicht nur in einem Lande niedergeworfen, vollständig besiegt und expropriiert haben, werden Kriege unmöglich werden. Und es ist wissenschaftlich gar nicht richtig – und gar nicht revolutionär – wenn wir eben das Wichtigste, die Niederwerfung des Widerstandes der Bourgeoisie, das Schwierigste, das am meisten Kampf Erfordernde im Übergange zum Sozialismus umgehen oder vertuschen. Die „sozialen“ Pfaffen und die Opportunisten sind gerne bereit, von dem zukünftigen friedlichen Sozialismus zu träumen, sie unterscheiden sich aber von den revolutionären Sozialdemokraten eben dadurch, daß sie von erbitterten Klassenkämpfen und Klassenkriegen, um diese schöne Zukunft zur Wirklichkeit zu machen, nicht denken und sorgen wollen.

Wir dürfen uns nicht durch Worte täuschen lassen. Zum Beispiel ist der Begriff „Landesverteidigung“ manchem verhaßt, weil dadurch die offenen Opportunisten und die Kautskyaner die Lüge der Bourgeoisie im gegebenen Räuberkriege verdecken und vertuschen. Das ist Tatsache. Aber daraus folgt nicht, daß wir verlernen sollen, über die Bedeutung der politischen Schlagworte nachzudenken. „Landesverteidigung“ im gegebenen Kriege anerkennen, heißt diesen Krieg für einen „gerechten“, dem Interesse des Proletariats dienlichen halten, weiter nichts und abermals nichts. Denn Invasion ist in keinem Kriege ausgeschlossen. Es wäre einfach dumm, „Landesverteidigung“ seitens unterdrückter Völker in ihrem Kriege gegen die imperialistischen Großmächte oder seitens des siegreichen Proletariats in seinem Kriege gegen irgendeinen Galliffet eines bürgerlichen Landes nicht anerkennen zu wollen.

Es wäre theoretisch grundfalsch, zu vergessen, daß jeder Krieg nur die Fortsetzung der Politik mit andern Mitteln ist, der jetzige imperialistische Krieg ist die Fortsetzung der imperialistischen Politik zweier Gruppen von Großmächten, und diese Politik wurde durch die Gesamtheit der Verhältnisse der imperialistischen Epoche erzeugt und genährt. Aber dieselbe Epoche muß notwendig die Politik des Kampfes gegen nationale Unterdrückung und des Kampfes des Proletariats gegen die Bourgeoisie erzeugen und daher die Möglichkeit und die Unvermeidlichkeit erstens der revolutionären nationalen Aufstände und Kriege, zweitens der Kriege und Aufstände des Proletariats gegen die Bourgeoisie, drittens der Vereinigung beider Arten von revolutionären Kriegen usw.

II

Dazu kommt noch eine weitere allgemeine Erwägung. Eine unterdrückte Klasse, die nicht danach strebt, Waffenkenntnis zu gewinnen, in Waffen geübt zu werden, Waffen zu besitzen, eine solche unterdrückte Klasse ist nur wert, unterdrückt, mißhandelt und als Sklave behandelt zu werden. Wir dürfen, ohne uns zu bürgerlichen Pazifisten und Opportunisten zu degradieren, nicht vergessen, daß wir in einer Klassengesellschaft leben und daß außer dem Klassenkampfe keine Rettung daraus möglich und denkbar ist. In jeder Klassengesellschaft, sie möge auf der Sklaverei, Leibeigenschaft oder, wie heute, auf der Lohnsklaverei beruhen, ist die unterdrückende Klasse bewaffnet. Nicht nur das heutige stehende Heer, sondern auch die heutige Miliz, die schweizerische auch nicht ausgenommen, ist Bewaffnung der Bourgeoisie gegen das Proletariat. Ich glaube, diese elementare Wahrheit nicht beweisen zu brauchen; es genügt, Militäraufgebote während der Streiks in allen kapitalistischen Ländern zu erwähnen.

Die Bewaffnung der Bourgeoisie gegen das Proletariat ist eine der größten, kardinalsten, wichtigsten Tatsachen der heutigen kapitalistischen Gesellschaft. Und angesichts dieser Tatsache will man den revolutionären Sozialdemokraten zumuten, sie sollen die „Forderung“ der „Entwaffnung“ aufstellen! Das wäre eine vollständige Preisgabe des Klassenkampfstandpunktes und jedes Gedankens an die Revolution. Wir sagen: Bewaffnung des Proletariats zum Zwecke, die Bourgeoisie zu besiegen, zu expropriieren und zu entwaffnen – das ist die einzig mögliche Taktik der revolutionären Klasse, eine Taktik, die durch die ganze objektive Entwicklung des kapitalistischen Militarismus vorbereitet, fundiert und gelehrt wird. Nur nachdem das Proletariat die Bourgeoisie entwaffnet hat, kann es, ohne an seiner weltgeschichtlichen Aufgabe Verrat zu üben, die Waffen zum alten Eisen werfen, was es auch ganz sicher dann – aber nicht früher – tun wird.

Und wenn der heutige Krieg bei reaktionären Sozialpfaffen, bei weinerlichen Kleinbürgern nur Schrecken, nur Erschrockenheit, nur Abscheu vor Waffengebrauch, Tod, Blut usw. erzeugt, so sagen wir dagegen: Die kapitalistische Gesellschaft war und ist immer ein Schrecken ohne Ende. Und wenn jetzt dieser Gesellschaft durch diesen reaktionärsten aller Kriege ein Ende mit Schrecken bereitet wird, so haben wir keinen Grund, zu verzweifeln. Nichts anderes als Ausfluß der Verzweiflung ist objektiv die Predigt, die „Forderung“ – besser zu sagen: der Traum – von der „Entwaffnung“ in jetziger Zeit, wenn offen, vor aller Augen der einzig legitime und revolutionäre Krieg, der Bürgerkrieg gegen die imperialistische Bourgeoisie, durch diese Bourgeoisie selber vorbereitet wird.

Wer das für eine „graue Theorie“, „bloße Theorie“ hält, den erinnern wir an zwei weltgeschichtliche Tatsachen: an die Rolle der Trusts und der Fabrikarbeit der Frauen einerseits, an die Kommune 1871 und die Dezembertage 1905 in Rußland anderseits.

Es ist die Sache der Bourgeoisie, die Trusts zu fördern, Kinder und Frauen in die Fabriken zu jagen, sie dort zu martern, zu korrumpieren, unsäglichem Elend preiszugeben. Wir „unterstützen“ diese Entwicklung nicht, wir „fordern“ so etwas nicht, wir kämpfen dagegen. Aber wie kämpfen wir? Wir erklären, die Trusts und die Fabrikarbeit der Frauen sind progressiv. Wir wollen nicht zurück, zum Handwerk, zum vormonopolistischen Kapitalismus, zur Hausarbeit der Frauen. Vorwärts über die Trusts usw. hinaus und durch sie zum Sozialismus.

Das gleiche gilt, mutatis mutandis, von der heutigen Militarisierung des Volkes. Heute militarisiert die imperialistische – und andere – Bourgeoisie nicht nur das ganze Volk, sondern auch die Jugend. Morgen wird sie meinetwegen die Frauen militarisieren. Wir antworten darauf: Desto besser! Nur immer schneller voran – je schneller, desto näher ist der bewaffnete Aufstand gegen den Kapitalismus. Wie können sich die Sozialdemokraten durch die Militarisierung der Jugend usw. einschüchtern oder entmutigen lassen, wenn sie das Beispiel der Kommune nicht vergessen. Es ist doch keine „Theorie“, kein Traum, sondern Tatsache. Und es wäre wirklich zum Verzweifeln, wenn die Sozialdemokraten allen ökonomischen und politischen Tatsachen zum Trotz daran zu zweifeln begännen, daß die imperialistische Epoche und die imperialistischen Kriege naturnotwendig, unvermeidlich zur Wiederholung dieser Tatsachen führen müssen.

Es war ein bürgerlicher Beobachter der Kommune, der im Mai 1871 in einer englischen Zeitung schrieb: „Wenn die französische Nation nur aus Frauen bestünde, was wäre das für eine schreckliche Nation.“ Die Frauen und die Jugend vom 13. Jahr an kämpften während der Kommune neben den Männern, und es wird nicht anders sein in kommenden Kämpfen um die Niederwerfung der Bourgeoisie. Die proletarischen Frauen werden nicht passiv zusehen, wie die gut bewaffnete Bourgeoisie die schlecht bewaffneten oder gar nicht bewaffneten Proletarier niederschießt, sie werden wieder, wie 1871, zu den Waffen greifen, und aus der heutigen „erschrockenen“ oder entmutigten Nation – richtiger: aus der heutigen, durch die Opportunisten mehr als durch die Regierungen desorganisierten Arbeiterbewegung – wird ganz sicher, früher oder später, aber ganz sicher ein internationaler Bund „schrecklicher Nationen“ des revolutionären Proletariats erstehen.

Jetzt durchdringt die Militarisierung das ganze öffentliche Leben. Die Militarisierung wird alles. Der Imperialismus ist erbitterter Kampf der Großmächte um Teilung und Neuteilung der Welt – er muß daher zur weitern Militarisierung in allen, auch in kleinen, auch in neutralen Ländern führen. Was sollen die proletarischen Frauen dagegen tun?? Nur jeden Krieg und alles Militärische verwünschen, nur die Entwaffnung fordern? Niemals werden sich die Frauen einer unterdrückten Klasse, die revolutionär ist, mit solcher schändlichen Rolle bescheiden. Sie werden vielmehr ihren Söhnen sagen:

Du wirst bald groß sein, man wird dir das Gewehr geben. Nimm es und erlerne gut alles Militärische – das ist nötig für die Proletarier, nicht um gegen deine Brüder zu schießen, wie es jetzt in diesem Räuberkriege geschieht und wie dir die Verräter des Sozialismus raten, sondern um gegen die Bourgeoisie deines ‚eigenen‘ Landes zu kämpfen, um der Ausbeutung dem Elend und den Kriegen nicht durch fromme Wünsche, sondern durch das Besiegen der Bourgeoisie und deren Entwaffnung ein Ende zu bereiten.“

Wenn man nicht eine solche Propaganda und eben eine solche im Zusammenhange mit dem jetzigen Kriege treiben will, dann höre man gefälligst auf, große Worte von der internationalen revolutionären Sozialdemokratie, von der sozialen Revolution, von dem Kriege gegen den Krieg im Munde zu führen.

III

Die Anhänger der Entwaffnung sind gegen die Volksbewaffnung unter anderem auch deshalb, weil die letztere Forderung leichter zu Konzessionen an den Opportunismus führen soll. Wir haben das Wichtigste untersucht: das Verhältnis der Entwaffnung zum Klassenkampfe und zu der sozialen Revolution. Jetzt wollen wir die Frage des Verhältnisses zum Opportunismus untersuchen. Einer der wichtigsten Gründe für die Unannehmbarkeit der Forderung der Entwaffnung besteht eben darin, daß durch diese Forderung und die dadurch unvermeidlich entstehenden Illusionen unser Kampf gegen den Opportunismus geschwächt und entkräftet wird.

Kein Zweifel, dieser Kampf steht auf der Tagesordnung in der Internationale. Der Kampf gegen den Imperialismus, wenn dieser Kampf nicht unzertrennlich mit dem Kampfe gegen

den Opportunismus verbunden ist, ist hohle Phrase oder ein Betrug. Einer der Hauptfehler von Zimmerwald und Kienthal und eine der Hauptursachen des möglichen Fiaskos dieser Keime der dritten Internationale bestehen eben darin, daß die Frage vom Kampfe gegen den Opportunismus nicht offen gestellt worden ist, geschweige denn entschieden im Sinne des unvermeidlichen Bruches mit den Opportunisten. Der Opportunismus hat – für eine gewisse Zeit – gesiegt in der europäischen Arbeiterbewegung. In allen größeren Ländern bildeten sich zwei Hauptschattierungen desselben: erstens der offene, zynische und darum weniger gefährliche Sozialimperialismus der Plechanows, Scheidemänner, Legiens usw., Albert Thomas und Sembat, Vandervelde, Hyndman, Henderson usw.; zweitens der verdeckte kautskyanische: Kautsky-Haase und „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ in Deutschland, Longuet, Pressemane, Mayéras usw. in Frankreich, Ramsay MacDonald und andere Führer der „Unabhängigen Arbeiterpartei“ in England, Martow, Tschcheidse usw. in Rußland, Treves und andere sogenannte linke Reformisten in Italien.

Der offene Opportunismus arbeitet offen und direkt gegen die Revolution und gegen die beginnenden revolutionären Bewegungen und Ausbrüche, im direkten Bunde mit den Regierungen, mögen die Formen dieses Bündnisses verschieden sein: von einer Teilnahme an der Regierung an bis zur Teilnahme an Kriegsindustriekomitees (in Rußland). Die verdeckten Opportunisten, die Kautskyaner, sind für die Arbeiterbewegung viel schädlicher und gefährlicher, weil sie ihre Verteidigung des Bundes und der „Einigkeit“ mit den ersteren durch wohlklingende „marxistische“ Worte und „Friedens“losungen verdecken und plausibel machen. Der Kampf gegen beide Formen des herrschenden Opportunismus kann nur auf allen Gebieten der proletarischen Politik geführt werden: parlamentarische Tätigkeit, Gewerkschaften, Streiks, Wehrfragen usw. Die Haupteigentümlichkeit aber, die beide Formen des herrschenden Opportunismus auszeichnet, besteht darin, daß man die konkreten Fragen der Revolution und die allgemeine Frage vom Zusammenhange des jetzigen Krieges mit der Revolution verschweigt, vertuscht oder im Polizeisinne „beantwortet“. Und das – nachdem man unmittelbar vor diesem Kriege unzählige Male inoffiziell und im Basler Manifest offiziell ganz unzweideutig auf den Zusammenhang eben dieses kommenden Krieges mit der proletarischen Revolution hingewiesen hatte! Und der Hauptfehler der Forderung der Entwaffnung ist auch der, daß alle konkreten Fragen der Revolution dadurch umgangen werden. Oder sind etwa die Entwaffnungsanhänger für eine ganz neue Art entwaffneter Revolution?

Weiter. Wir sind absolut nicht gegen den Kampf um Reformen. Wir wollen nicht die unangenehme Möglichkeit ignorieren, daß die Menschheit im schlimmsten Falle noch einen zweiten imperialistischen Krieg durchmachen wird, wenn die Revolution trotz den mehrfachen Ausbrüchen der Massengärung und Massenempörung und trotz unseren Bemühungen aus diesem Kriege noch nicht geboren wird. Wir sind Anhänger eines Reformprogrammes, das auch gegen die Opportunisten gerichtet werden muß. Die Opportunisten wären nur froh, wenn wir ihnen allein den Kampf um Reformen überließen, uns selbst aber in ein Wolkenkuckucksheim einer „Entwaffnung“ vor der schlechten Wirklichkeit drücken. Entwaffnung ist nämlich Flucht aus der schlechten Wirklichkeit, kein Kampf gegen sie.

In so einem Programm würden wir etwa sagen: „Die Parole und die Anerkennung der Vaterlandsverteidigung in dem imperialistischen Kriege 1914-1916 ist nur Korrumpierung der Arbeiterbewegung durch eine bürgerliche Lüge.“ So eine konkrete Antwort auf eine konkrete Frage würde theoretisch richtiger, für das Proletariat viel nützlicher, für die Opportunisten viel unerträglicher sein als die Forderung der Entwaffnung und die Absage an „jede“ Landesverteidigung! Und wir könnten hinzufügen: „Die Bourgeoisie aller imperialistischen Großmächte, Englands, Frankreichs, Deutschlands, Österreichs, Rußlands, Italiens, Japans, der Vereinigten Staaten, ist so reaktionär geworden und vom Streben zur Weltbeherrschung durchdrungen, daß jeder Krieg seitens der Bourgeoisie dieser Länder nur reaktionär sein kann. Das Proletariat soll nicht nur gegen jeden solchen Krieg sein, sondern auch die Niederlage ‚seiner‘ Regierung in solchen Kriegen wünschen und zur revolutionären Erhebung benutzen, wenn eine solche Erhebung zur Verhinderung des Krieges mißlingt.“

Was die Miliz betrifft, so würden wir sagen: Wir sind nicht für eine bürgerliche, sondern nur für eine proletarische Miliz. Deshalb keinen Mann und keinen Groschen nicht nur für das stehende Heer, sondern auch für die bürgerliche Miliz auch in solchen Ländern wie die Vereinigten Staaten, die Schweiz, Norwegen usw., um so mehr, als wir selbst in den freiesten republikanischen Staaten (z.B. in der Schweiz) die fortschreitende Verpreußung der Miliz, besonders seit 1907 und 1911, und deren Prostituierung zu Militäraufgeboten gegen die Streiks sehen. Wir können fordern: Wahl der Offiziere durch die Mannschaften, Abschaffung jeder Militärjustiz, Gleichstellung der ausländischen Arbeiter mit den einheimischen (besonders wichtig für imperialistische Länder, die fremde Arbeiter in steigender Zahl, wie z.B. die Schweiz, schamlos ausbeuten und rechtlos machen), weiter das Recht jeder, sagen wir, hundert Einwohner des Staates, freie Vereinigungen zur Erlernung des Kriegshandwerks zu bilden, freie Wahl der Instruktoren, Entschädigung derselben auf Staatskosten usw. Nur so könnte das Proletariat alles Militärische wirklich für sich und nicht für seine Sklavenhalter erlernen, was absolut in seinem Interesse liegt. Und jeder Erfolg, sei es auch nur ein Teilerfolg der revolutionären Bewegung – z.B. Eroberung einer Stadt, eines Industrieortes, eines Teiles der Armee –, wird naturnotwendig, das hat auch die russische Revolution bewiesen, dazu führen, daß das siegreiche Proletariat eben dieses Programm zu verwirklichen gezwungen sein wird.

Endlich kann man natürlich den Opportunismus mit bloßen Programmen niemals besiegen, sondern nur mit Aktion. Der größte und verhängnisvollste Fehler der zusammengebrochenen zweiten Internationale bestand darin, daß man Worte und Taten trennte, Heuchelei und revolutionäre Phrase (siehe das jetzige Verhältnis von Kautsky und Cie. zum Basler Manifest) gewissenlos förderte. Entwaffnung als soziale Idee, d.h. eine solche Idee, die von irgendeiner sozialen Umgebung geboren ist und auf eine soziale Umgebung wirken kann und nicht nur eine persönliche Schrulle bleibt, entspring offenbar aus den kleinlichen und ausnahmsweise „ruhigen“ Verhältnissen einiger Kleinstaaten, die abseits der blutigen Weltstraße des Krieges liegen und weiter zu liegen hoffen. Man betrachte die Argumentation der norwegischen Entwaffnungsanhänger: Wir sind klein, unser Heer ist klein, wir können nichts gegen Großmächte (und darum auch nichts gegen die gewalttätige Einbeziehung in einen imperialistischen Bund mit irgendeiner Gruppe der Großmächte …) wir wollen ruhig bleiben in unserem Winkel und Winkelpolitik treiben, wir fordern Entwaffnung, bindende Schiedsgerichte, „permanente“ (etwa wie für Belgien?) Neutralität usw.

Kleinstaatliches Beiseite-sein-Wollen, kleinbürgerliches Streben, von großen Weltkämpfen fernzubleiben, seine etwaige Monopolstellung zum engherzigen Passivsein ausnützen – das ist die objektive gesellschaftliche Umgebung, die der Idee der Entwaffnung einen gewissen Erfolg und Verbreitung in einigen Kleinstaaten sichern kann. Natürlich ist solches Streben illusionär und reaktionär, der Imperialismus wird sowieso die Kleinstaaten in den Wirbel der Weltwirtschaft und der Weltpolitik einbeziehen.

Der Schweiz sind z.B. durch ihre imperialistische Umgebung zwei Linien der Arbeiterbewegung objektiv vorgeschrieben: Die Opportunisten streben im Bunde mit der Bourgeoisie danach, aus der Schweiz einen republikanisch-demokratischen Verein zum Profitempfangen von den Touristen der imperialistischen Bourgeoisie zu machen und die „ruhige“ Monopolstellung recht hübsch und ruhig zu wahren. Wir wirklichen Sozialdemokraten der Schweiz streben danach, die relative Freiheit und die „internationale“ Lage der Schweiz dazu auszunützen, um dem engem Bunde der revolutionären Elemente in den Arbeiterparteien Europas zum Siege zu verhelfen. Die Schweiz spricht Gott sei Dank keine „selbständige“ Sprache, sondern drei Weltsprachen, und zwar solche, die in angrenzenden kriegführenden Staaten gesprochen werden. Wenn 20.000 Mitglieder aus der schweizerischen Partei zwei Rappen wöchentlich „Extrakriegssteuer“ zahlen – man würde z.B. 20.000 Franken jährlich bekommen – mehr als genug, um in drei Sprachen für die Arbeiter und für die Soldaten in kriegführenden Ländern alles das periodisch zu publizieren, und dem Verbote der Generalstäbe zum Trotz zu verbreiten, was die Wahrheit enthält: über die beginnende Erhebung der Arbeiter, deren Verbrüderung in Schützengräben, deren Aussichten auf revolutionäre Waffenbenutzung gegen die imperialistische Bourgeoisie ihrer „eigenen“ Länder usw.

Das ist nicht neu. Das wird eben durch die besten Zeitungen, „La Sentinelle“, „Volksrecht“, „Berner Tagwacht“, schon gemacht, nur leider in nicht genügendem Maße. Nur durch solche Tätigkeit kann der schöne Beschluß des Aarauer Parteitages zu etwas mehr als einem schönen Beschluß gemacht werden. Und es genügt, die Frage zu stellen: Entspricht dieser Richtung der sozialdemokratischen Arbeit die „Entwaffnungs“forderung?

Offenbar nicht. Objektiv entspricht die Entwaffnung der opportunistischen, engnationalen, beschränkt kleinstaatlichen Linie der Arbeiterbewegung. Objektiv ist die Entwaffnung das nationalste, das spezifisch nationale Programm der Kleinstaaten, kein internationales Programm der internationalen revolutionären Sozialdemokratie.

Geschrieben im September 1916.

Zuerst veröffentlicht im September und Oktober 1917 in der Zeitschrift „Jugend-Internationale“ Nr. 9 und 10.

Unterschrift: N. Lenin.

Nach dem deutschsprachigen Text der Zeitschrift