Der vorliegende Text ist ein kurzer Essay des proletarischen Schriftstellers Willi Bredel über den Hamburger Aufstand. Dieser wurde unter anderem veröffentlicht in dem Sammelband „Unter Türmen und Masten“ von 1977, erschienen im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar.
Hamburg auf den Barrikaden
Die Werktätigen wehrten sich gegen die Inflation, durch die die Not täglich, stündlich größer wurde; sie demonstrierten und streikten für ihre elementarsten Lebensrechte. Die Reaktion hielt ihre bewaffneten Banden bereit. In Bayern organisierten sogenannte Völkische Verbände und die Hitlerpartei Meuchelmorde gegen Arbeiterführer und riefen offen zum Bürgerkrieg. Viele Güter ostelbischer und bayrischer Großgrundbesitzer waren regelrechte Truppenlager, in denen angeworbene Landsknechte für den Bürgerkrieg gedrillt wurden.
In Sachsen und Thüringen waren auf legalem, verfassungsmäßigem Weg Arbeiterregierungen gebildet worden, in die, um ihren Willen zur Arbeitereinheit zu bekunden, auch Kommunisten eintraten. Im ganzen Reich brachen Teilstreiks aus, von der reformistischen Bürokratie in der Sozialdemokratie und in den Gewerkschaften nach Kräften gebremst. Auch die Mehrheit der damaligen Parteiführung der KPD trieb eine opportunistische Politik. Sie drückte sich darin aus, daß die KPD, die in Sachsen und Thüringen mit der SPD eine Koalitionsregierung gebildet hatte, ihre Maßnahmen von den Handlungen der sozialdemokratischen Führer in Sachsen und Thüringen abhängig machte, statt sich an die Spitze der kampfbereiten Massen zu stellen und – nachdem im August 1923 auf dem Höhepunkt der Inflation ein Generalstreik die reaktionäre Reichsregierung Cuno hinweggefegt hatte – angesichts der akut-revolutionären Situation in ganz Deutschland die Massenaktionen bis zum bewaffneten Aufstand zu steigern. So verzettelten sich die Arbeiter ihre Kräfte in vielen einzelnen, voneinander isolierten Streikkämpfen, und die akut-revolutionäre Situation, die alle Voraussetzungen für den Sieg der Arbeiterklasse in ganz Deutschland bot, ging vorüber.
Auch in Hamburg traten am 8. August die Werftarbeiter gegen den Willen der Gewerkschaftsbürokratie in den Streik. Die Werftunternehmer antworteten mit der Aussperrung sämtlicher Arbeiter. Zehntausende lagen ohne jede Unterstützung auf der Straße. Darauf traten die Arbeiter anderer Industriegruppen in den Proteststreik. Ein Generalstreik stand bevor. Nun verhängte der Hamburger Senat, der in seiner Mehrheit aus Sozialdemokraten bestand, den Belagerungszustand. Das geschah im Oktober parallel mit der Reichsexekutive des sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert, der die in Sachsen und Thüringen verfassungsmäßig gebildeten Arbeiterregierungen für abgesetzt erklärte und in Sachsen und Thüringen Reichswehr einmarschieren ließ.
Die ersten Worte der Verfassung von Weimar lauteten: „Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ – Zum letzten Wort der Verfassung wurde der § 48: Außer Kraft gesetzt …
Wieder einmal regierte das letzte Wort.
In diesen politischen Sturmtagen des Oktober 1923 gaben die Hamburger Arbeiter unter Führung Ernst Thälmanns der ganzen deutschen Arbeiterschaft das große Beispiel, wie man überall hätte kämpfen müssen, um die Reaktion zu entmachten und in Deutschland eine wahre, auf den Willen und die Kraft des werktätigen Volkes gegründete Demokratie zu errichten.
In der Morgendämmerung des 23. Oktober drangen unbewaffnete Arbeitertrupps in den Vororten Hamburgs, in Barmbeck, Uhlenhorst, Winterhude, Eimsbüttel, Schiffbek, Hamm und Bramfeld, in die Polizeiwachen ein und überrumpelten und entwaffneten die anwesenden Polizisten. Als der Tag anbrach, waren in diesen Arbeitervierteln die nunmehr bewaffneten Arbeiter Herren der Lage. Begeistert nahmen Tausende von Männern, Frauen und Jugendlichen am Kampf teil. Barrikaden wurden gebaut, verborgen gehaltene Waffen herangeholt, Mannschaftsverpflegung für die Kämpfer vorbereitet. Arbeitersanitäter meldeten sich und stellten sich den kämpfenden Arbeitern zur Verfügung.
Die Bourgeoisie Hamburgs war vor Entsetzen wie gelähmt. Hals über Kopf flohen zahlreiche Patrizierfamilien aus ihren Villen an der Alster und brachten sich in Sicherheit. Die Leitungen des Gewerkschaftsbundes und der Sozialdemokratie erklärten sich mit Entschiedenheit gegen die kämpfenden Arbeiter und forderten alle Bürger Hamburgs auf, den Senat in seinen Maßnahmen zur Unterdrückung des Aufstandes zu unterstützen. Allen in der Innenstadt wohnenden Polizeibeamten wurde befohlen, sich unverzüglich zu melden. Jedoch viele verbargen sich und zeigten nicht die geringste Lust, als Bürgerkriegstruppe gegen kämpfende Arbeiter eingesetzt zu werden. Daraufhin erhielt die „Vereinigung Republik“, ein Vorläufer des späteren Reichsbanners, in der fast ausschließlich Sozialdemokraten organisiert waren, den Befehl, die Polizeiwachen im Stadtinnern zu besetzten und den Polizeidienst in den Straßen zu versehen, damit die Polizisten für den Straßenkampf frei wurden. Doch der Senat wusste nur zu gut, daß er sich auf seine Polizeitruppe nicht verlassen konnte, deshalb erflehte er militärische Hilfe vom Reichswehrgeneral Lettow-Vorbeck in Schwerin. Auch ein im Hamburger Hafen liegendes Kriegsschiff erhielt Order, an dem Kampf teilzunehmen. Im Laufe des 23. und des 24. Oktober hatte der Hamburger Senat eine Armee von mehreren tausend Mann schwerbewaffneter Polizisten, Soldaten und Marinemannschaften für den Kampf gegen die aufständischen Arbeiter zur Verfügung.
Ernst Thälmann war der leitende Kopf des Aufstandes. Er bestimmte die Kampftaktik und leitete die militärischen Operationen. Seiner überlegenen Führung gelang es, mehrere Tage einem an Zahl zehnfach, an Waffen noch weit mehr überlegenen Gegner erfolgreich Widerstand zu leisten. Die Arbeiter Hamburgs kämpften heroisch; keiner von ihnen lief beim ersten Schuß davon wie wenige Tage später, am 9. November, in München Hitler und seine Spießgesellen.
Zum ersten Male in der Geschichte revolutionärer Aufstände gingen die Arbeiter Hamburgs in ihrem Abwehrkampf gegen einen mit modernen Kampfmitteln ausgerüsteten Gegner zu neuen Kampfmethoden über. Glaubten die Polizeitruppen einen Wohnbezirk eingekesselt und gingen sie vor, diesen Aufstandsherd zu liquidieren, fanden sie zu ihrem größten Erstaunen nicht einen einzigen kämpfenden Arbeiter mehr vor. Und ehe sie überhaupt begriffen, was geschehen war, sahen sie sich selbst eingeschlossen und von allen Seiten unter Feuer genommen. Die Arbeiter hatten auf den unterirdischen Wegen der städtischen Kanalisation ihre alten Stellungen verlassen und im Rücken der Polizei neue Kampfpositionen bezogen. So zog sich der Kampf mit wechselnden Fronten hin; verstummte er an der einen Stelle, flammte er an einer anderen wieder auf.
Drei Tage und drei Nächte wurde in den Arbeiterstraßen gekämpft, und den vereinigten Kräften der Polizei, der Reichswehr und Marine war es nicht gelungen, den Aufstand zu unterdrücken. Die von Ernst Thälmann gefundene, den Erfordernissen und Umständen angepaßte bewegliche Kampftechnik brachte Unsicherheit und Verwirrung in den Reihen des Gegners und machte es ihm unmöglich, seine überlegenen Kräfte konzentrisch einzusetzen.
Über diese neue Kampfmethode, die die Arbeiter in Hamburg fanden, haben später bürgerliche Militärspezialisten dicke Bücher geschrieben, und Polizei und Reichswehr erhielten mit Rücksicht auf diese Methode neue Instruktionen und Straßenkämpfe.